Nach unserem ersten Hurricane in der Hochsaison, Stufe 1, und einem Tag Schlaf, hatten wir aufzuräumen. Während eines Tages riggten wir drei von vier Segeln und stellten den einzigen Sturmschaden fest. Die «Wang», mit der der Winkel der Gaffelgabel am oberem Eck des Grosssegels getrimmt wird, hatte ihre Ummantelung durchgeschabt. Da diese Leine aber aus einem Mantel und einem Kern besteht, befand sie sich noch in ihren Blöcken und Reto konnte sie behelfsmässig flicken. Unterbrochen wurden wir nur von den anderen Cruisers, die den Hurricane abgeritten hatten. Einige von ihnen fuhren mit ihren motorisierten Schlauchbooten von bewohntem Boot zu bewohntem Boot, um zu fragen, wer den Sturm wie gut überstanden hatte und verbreiteten das Befinden der Bootsbesitzer weiter, die zu Hause blieben. David, unser neuer Freund aus England, hatte es sich zur Aufgabe gemacht alle Boote zu fotografieren und die Besitzer via Facebookgruppe über deren Zustand zu informieren. Er selbst hatte Glück gehabt. Ein grosser Katamaran an der Boje im Luv von ihm hatte sich beim Sturm losgerissen und seine Wild Beast nur um einen knappen Meter verfehlt. Der Katamaran Gryphon dagegen wurde auf die Felsen gespült und sass nun fest. Ansonsten hatten die anwesenden Bootsbesitzer keine Schäden zu verbuchen. Sobald das Vorsegel endlich auch von der zweiten Seite mit einem Flicken bestickt war und wir dieses geriggt hatten, verlegten wir uns an einen Ankerplatz gleich vor dem Strand des geschlossenen Chant’n’Chill Bar’n’Grill.
Sobald der Hurricane zwischen Nassau und Andros Island durchgezogen war und auf die USA zuhielt, hatte der Präsident wieder Lockdown über seine Nation verhängt. Alle Restaurants sind wieder geschlossen, die Lebensmittelläden und Hardware Stores sind nur an bestimmten Tagen geöffnet. Auch das reisen zwischen den Inseln ist teilweise untersagt, doch wir wissen ohnehin nicht, wo wir hinsegeln wollten. Käme ein weiterer Sturm, was während August und September zu erwarten ist, wären wir in Loch Drei am sichersten, weshalb weiterfahren keinen Sinn macht. So genossen wir die Gesellschaft der anderen Cruisers und viel Freizeit. Da der Privatstrand des Restaurants verlassen war, trafen wir uns regelmässig auf ein Getränk oder sogar ein sogenanntes Pot Luck, an dem jeder ein Gericht mitbringt, dass alle teilen. Auch bekommt man so Pläne und Anekdoten der meist längst pensionierten Cruiser zu hören. Carol und George wollten sich mit dem Charterflugzeug ausfliegen lassen, weil es ihnen auf dem Boot zu warm wurde. Jeanne und Gordon fuhren schliesslich mitsamt ihrem Boot zurück in die USA, während Ken, Bob, Dennis und David einfach hierbleiben würden. Und wir? Wir haben keine Pläne mehr. Nachdem Carol und George sich hatten ausfliegen lassen, verschoben sich die Treffen der Cruisers nach und nach in unser Cockpit. Erst hatten wir David immer regelmässiger zu Tee und manchmal Kuchen zu besuch, später wurde die Gruppe grösser und die Getränke reichten von Tee bis zu mitgebrachten Cocktails. Der Abend als Kassandra und Jeff neu zu uns stiessen, entwickelte sich zur echten Cocktail Party.
Uns war einige Tage nach dem Hurricane das Wasser in den Tanks ausgegangen, daher hatten wir auch einen Ausflug samt Sea Chantey in die Stadt gemacht. Am einzigen Dock des Exuma Yacht Club bekamen wir Wasser zu einem ganz vernünftigen Preis. Auch konnten nach fast vier Wochen erstmal wieder eine Dusche benutzen, keine besonders schöne oder saubere Dusche, aber sie hatte Licht und es kam Wasser, wenn man den Hahn aufdrehte, was in den Bahamas nicht bei allen Duschen der Fall ist. Seither liegen wir vor Anker und fahren bei jemandem mit, falls wir einmal in die Stadt müssen. Auch fanden wir in unserem bootseigenen Ersatzteillager tatsächlich eine Leine mit der wir die Wang ersetzten konnten. Der Babybauch passte erstaunlich gut in die Riemen des Bootsmannsstuhls, der einen erstaunlich bequemen Sitzplatz bot, was inzwischen an Bord schwierig zu finden ist. Am Besanfall zog Reto mich samt Nachwuchs zum Mastspitz, wo ich hin- und herschaukelnd die Wang ersetzte. Nun fehlt uns nur noch eine Gelegenheit mit WiFi, um unsere Heimreise in Planung zu nehmen.
Am Montag, 27. Juli kamen wir wieder in Georgetown an. Hier hatten wir zunächst zwei Prioritäten: Einkaufen und Vorbereitung auf den anrückenden Sturm. Wir ankerten nahe der Bucht mit den angrenzenden Blue Holes, die als Hurricane Hole bekannt waren und ich wurde mit dem um eine ganze Stunde verspäteten Wassertaxi in die «Stadt» geschickt. Die Einkaufsliste: Bargeld, Schäkel und Fender aus dem Hardware Store, frische Lebensmittel für den Vitaminhaushalt, Eis. Die Bankomaten bei der ersten Bank waren längst leer, erst bei der zweiten liess sich Notfallgeld beschaffen. Auch im Hardware Store mit dem vielversprechenden Namen «Top 2 Bottom» fand ich nur die Hälfte, besonders auf den Ersatz unseres luftlosen Fenders musste ich verzichten. Trotz des Drangs, sich gut vorzubereiten, musste ich sparsam einkaufen, denn mehr als zwei Säcke Lebensmittel und zwanzig Pfund Eis kann ich alleine nicht tragen. Als ich endlich am Pier das Wassertaxi bestieg, war ich so hinüber, dass ich mich über die Nektarinen hermachte, bis endlich der Taxichauffeur auftauchte. Tatsächlich überlebte der Grossteil der Eiswürfel die Überfahrt zu Sea Chantey, wo Reto schon dabei war, die Segel von ihren Bäumen zu lösen. Er war sehr erfolgreich gewesen, denn nach zwei Anläufen hatte er es geschafft auf Stocking Island eine Mooring zu mieten. Wir würden unser Boot im sogenannten Loch Drei hinter rundumliegenden Hügelkuppen verstecken können, die uns vor grossen Wellen schützen und vor den stärksten Sturmböen abschirmen würden. Die Einfahrt war dafür nicht einfach, da die natürliche Einfahrtsstelle zwischen Loch Null (das nur im Osten Hügel aufweist und im Westen zur Bucht hin offen ist) und Loch Zwei (nördlich von Loch Null) so seicht ist, dass wir nur bei Flut hindurchkommen. Kaum eine Stunde nach meiner Rückkehr stand ich auf dem Bugspriet und dirigierte uns zwischen dem garstigen Felsen und einer Sandbank hindurch. Die Einfahrt in Loch Drei, das nördlichste der vier Blue Holes, welches mit den höchsten Hügeln umgeben ist, war dafür ein Klacks. Mit unseren dicksten Leinen vertäuten wir uns an einer Mooring, umgeben von fünfzehn anderen Schiffen jeder Grösse. Dann demontierten wir zunächst alle Segel, holten alle Flaggen ein und liessen alles unter Deck verschwinden, was nicht niet- und nagelfest ist. Ausserdem ketteten wir unsere schwersten Anker aneinander, damit wir diese mit Fall, dass die Mooring sich löste, fallenlassen könnten. Auch am Folgetag taten wir, was uns einfiel: Wir umwickelten die Leinen mit Tuch um sie vor durchschaben zu schützen, klebten die Solarpanels mit Tuck Tape ans Kabinendach und Reto überprüfte bei einem Tauchgang die Mooring. Er fand dabei eine zweite Schlaufe, durch welche wir anschliessend die dicken Leinen führten, weil es uns besser erschien. Dabei half uns Bob, selbst seinen Katamaran durch den Sturm bringen musste. Ken, den wir am Vortag kennengelernt hatten, brachte uns aus der Stadt noch einmal zwei Säcke Eis. Auch die übrigen, wenigen Cruisers, die den Sturm hier verbringen würden lernten wir bei einem Ausflug an den Strand kennen. Alle versuchten sich nicht zu viele Sorgen und Gedanken zu dem Sturm zu machen, der derweil über die Dominikanische Republik zog. Wir waren sicher, getan zu haben, was wir konnten um unsere Boote und uns zu beschützen – nun mussten wir warten.
Windig aber traumhaft schön – wer würde denken dass nachts ein Hurricane vorbeifegt?Hole 3
Am Morgen des 31. Juli hatte der Tropische Sturm nicht nur einen Kurs weiter nördlich eingeschlagen, sondern auch ein Auge ausgebildet. Damit war er nun zum Hurricane herangewachsen und hatte den Namen Isaias bekommen. Leider würde er Nahe an uns vorbeiziehen, aber wir konnten nicht mehr tun als zu warten. Mit Büchern, Musik und Blogbeiträgen lenkten wir uns von dem kommenden, wüstesten Wetter ab, dass wir je erlebt hatten. Vormittags war es sonnig, Wolkenfronten zogen über uns hinweg, aber das Wetter hätte niemals einen Hurricane erwarten lassen. Erst nach dem Mittag zog eine dunkle Wolkendecke auf, die mit erstaunlicher Geschwindigkeit über uns hinweg zog, aber kein Ende mehr nahm. Wir checkten regelmässig die Position des Sturms aus – Reto hatte dafür extra ein zusätzliches Datenpaket bei Swisscom erstanden – und sahen Isaias zu, wie er nördlich von Kuba seinen Kurs anpasste, um uns sicher zu erwischen. Wir schluckten jeweils leer: Wenn der Sturm vorbeizog, würden wir zwar starke Winde haben, aber nur aus drei Himmelsrichtungen, durch die er langsam drehte. Mussten wir durch das Auge, würden wir erst Winde aus Westen haben, dann die Windstille im Auge des TSurm aussitzen und sehr abrupt an den Ostwinden um unsere Mooringboje schwingen, was sehr viel Materialbelastender ist, als wenn das Auge vorbeizieht. Dies ist der Moment, wenn Mooringsteine oder Klampen ausreissen, Leinen lassen oder Masten brechen. Während des Nachmittags nahm der Wind an Stärke zu, drückte uns an der Mooring hin und her und warf 30 cm hohe Wellen in der fast geschlossenen Bucht auf, die Loch Drei genannt wird. Loch Drei ist nur 250 m lang und 150 m breit. Ein Fuss hohe Wellen aufzuwerfen bedeutete 35 Knoten Wind zu «geniessen». Bis es nach sieben Uhr einzudunkeln begann, schaukelten uns fast zwei Fuss hohe Wellen. Dann sahen wir nichts mehr: Kein Mondlicht drang durch die Wolken, kein Licht von irgendwoher vermochten wir auszumachen. Der Sturm heulte laut und wir spürten seine enorme Kraft gegen die Kabinenwände drücken. Sea Chantey bewegte den Bug hoch und hinunter, wie auf dem offenen Meer. Es war unheimlich, aber mich persönlich ängstigte es nicht mehr als der letzte Sturm, den wir vor Conception Island abgewettert hatten. Dennoch konnten wir nicht mehr lesen. Stumm hörten wir Isaias heulen, spürten Sea Chanteys Bewegungen, schätzen die Wellenhöhe und sahen der natürlich nicht brennenden Petrollampe beim schwingen zu. Erst gegen morgens um zwei Uhr schien das heulen abzunehmen und ich versuchte zu schlafen, aber ebenso wie Reto lag ich noch stundenlang wach.
Unser Nachbarschiff Sirocco. Während Isaias tobte, schaukelte sie fast einen Meter hoch und runter.
Als ich schliesslich gegen Mittag wieder aufwachte, schien die Sonne und kein Lüftlein wehte, als wäre nie etwas gewesen. Wir stellten auf den ersten Blick auch keine Schäden fest, daher legten wir uns trotz der Hitze wieder aufs Ohr und verschliefen den Nationalfeiertag. Nicht einmal die Landesflagge setzten wir wieder am Besanmast.
Zu meinen schwachen Nerven: Es ist nicht ganz einfach den Zeitpunkt zu bestimmen, zu welchem man dem World Wide Web offenbart, dass man an einem langweiligen Tag nicht aufgepasst hat. Schon in Florida bemerkten wir, dass meine Blutung ausgeblieben war und dass sich mein Körper veränderte. Der kurzerhand beim Proviantieren erstandene Schwangerschaftstest klärte die Situation –
Ich bekomme ein Kind!
Da wir aber mit Richard verabredet waren zogen wir dennoch unseren Plan durch und fuhren in die Bahamas. Dass mir zufälligerweise erst nach dem Probieren der Seeschnecke die Schwangerschaftsübelkeit… naja, übel zusetzte, ist Pech für das Image der Schnecke. Die zwei Wochen bis wir Nassau erreichten, war mir sterbenselend. Während des Corona Lockdowns in Nassau festzusitzen hatte aber zumindest den positiven Aspekt, dass ich einen Frauenarzt aufsuchen konnte. Dr. Charles Lowne bestätigte uns die Schwangerschaft und beobachtete im Monatsrhytmus das Wachstum unseres liebsten Würmchens. Ausserdem brauchte ich die schlimmsten Wochen der Schwangerschaft weder zu segeln, noch sonst viel zu tun, was mir gelegen kam. Ich fühlte mich ausgesogen, wie eine leere Batterie, mein Magen war oft flau und Hitze und Schwangerschaft machten mich so matt, dass ich oft den ganzen Tag herumlag. Ich sogar zu faul um an meinem Buch zu arbeiten, was nun wirklich kaum körperlich Anstrengung birgt. Bis das Reisen zwischen den Inseln wieder erlaubt wurde, hatte ich die schlimmsten Beschwerden und die Grösste Mattheit hinter mir. Drei Tage bevor wir in die Exuma Islands aufbrachen, bestimmte Dr. Lowne das Geschlecht unseres Kindes und ich spürte schon in der 18. Woche die ersten Bewegungen. Der perfekte Name stieg auf einer einsamen Insel zu uns hernieder. Auf vielen Fotos ist es bereits nicht mehr zu übersehen, dass ich mich inzwischen in der 25. Woche befinde. Kopfrechentalente wissen nun sofort, dass wir Anfang November Eltern werden.
Weil ich gerne in der Nähe meiner Familie und im Spital gebären möchte, in dem meine engste Freundin auf der Kinderabteilung arbeitet, möchten Reto und ich Ende September oder Anfang Oktober nach Hause fliegen. Bis das Kind alle nötigen Impfungen und Papiere hat, wird es vermutlich Januar. Dann wird die Reise mit Baby an Bord weitergehen, wohin der Wind uns treibt. Voraussetztung für die beschwerliche Heimreise ist aber, dass wir einen Platz finden, wo wir unser Boot zurücklassen können. Die momentane Reiselage macht uns nicht nur wegen der Heimreise Sorgen, welche lange und mit 24-stündigem Maskentragen verbunden sein wird. Auch sorgt uns, ob wir im Januar wirklich an den Ort zurückkehren können, an welchem sich unser geliebtes Holzboot dann befindet. Doch wie sagt man? Kommt Zeit, kommt Rat.
Zunächst musste natürlich das Backstag repariert werden. Nach einem Tag voller Gewitterstürme, folgte ein sonniger Tag in der Bucht einer tropischen Insel. Das Backstag hatte seine Holzschrauben aus der Stirnseite seines Spants gerissen und hing nur noch an drei Mal zwei Gewindegängen. Eine Schraube hatte ein sauberes rundes Loch aus der Planke gerissen, weil diese nicht im Spant steckte. Um sie zu ersetzten mussten wir von der Schiffsinnenseite daran herankommen, was uns vor einige Probleme stellte. Leider war das Schraubenloch nicht von der Kabine erreichbar, sondern nur von dem Stauraum unter dem Deck. Durch eine kleine Luke musste sich einer von uns in diesen geschlossenen Raum zwängen, den Heisswassertank lösen und zur Seite schieben und sich schliesslich zwischen die Isolation der Eisbox und der Bordwand einnisten um von dort die Mutter auf die Schraube zu drehen. Ich, die Kleinere mit den schmalen Händen, wäre prädestiniert für den Auftrag gewesen, aber meine Nerven waren vom Vortag noch so strapaziert, dass ich beim losschrauben des Heisswassertank schon Platzangst bekam. Warum ich – für mich untypisch – momentan solch schwache Nerven habe, erkläre ich jenen im folgenden Beitrag, die es noch nicht wissen. Reto musste also seine breiten Schultern zwischen den «Boiler» und die Eisbox zwängen, wofür ich mich nicht wenig schämte. Reto mischte Epoxid zum Abdichten an und wir schraubten die Ankerplatte des Backstags mit langen Holzschrauben wieder in den Spant. Dann kroch Reto mit Mutter und Unterlagscheibe in Sea Chanteys Tiefen hinab. «Du musst mich dann halt freisägen, falls ich stecken bleibe», rächte er sich dafür bei mir. Dummerweise kam er mit den Fingern fast nicht zwischen die Schiffskonstruktion und während uns das Epoxid wegtrocknete, mussten wir kreativ werden. Was mit den Händen nicht klappte, klappte vielleicht mit einem Werkzeug? Reto schlug Mutter, Spannscheibe und Unterlagscheibe in ein Stück Holz, aber die Scheibe verlor er auf dem Weg in die Tiefe, weshalb ich sie mit ein bisschen Honig auf das Holzstück klebte. Dennoch liess sich die Schraube nicht ansetzten, weil die Holzplatte sich kaum positionieren liess. So hatte ich das Holz zurecht zu sägen, während Reto hinter der Eisbox verblieb. Damit fanden wir doch zumindest heraus, dass die Schraube zu nahe an der Spante platziert war, um die Scheibe darüberzustülpen. Daher reckte er sich und hielt mühsam die Mutter mit einem Finger auf das Schraubenende, während ich von oben die Schraube drehte. Nach drei Versuchen und aufgebrachtem Fluchen von unter den Planken griff die Schraube endlich! Nun konnte Reto die Mutter mit einer Zange halten bis ich die Schraube festgedreht hatte. Ich übernahm das Aufräumen, nachdem Reto mit einem Getränk versorgt war.
WerkzeugCorpus delicti
Sobald 24 Stunden später das Epoxid trocken war, brachen wir auf. Wir waren noch mürbe von den Gewitterfronten und probierten mehr Wind und Wellen aus, als dass wir wirklich den Tripp nach Rum Cay durchziehen wollten. Wegen des starken Seegangs, der Sea Chantey wieder und wieder bremste, errechneten wir eine Ankunft mitten in der Nacht. Wegen den Riffen, die sich rund um die meisten bahamischen Inseln ziehen, wollten wir lieber bei Tageslicht ankommen. Gegen vier Uhr wendeten wir, machten es uns hinter Conception Island gemütlich und machten einen Ausflug an Land. Zumal wir den Ankerplatz mit dem grossen, wie ein Dampfschiff aussehenden Tauchtourboot teilten, welches Georgetown mit uns verlassen hatte, hatten wir auch jemanden für ein wenig Smalltalk. Mit den Leuten von den Charterjachten, die täglich ihre Liegestühle am Strand aufstellten, sprachen wir nicht. Am Folgetag machten wir uns früh auf den Weg, um es sicher bis Rum Cay zu schaffen, aber irgendetwas verwehrte uns die Überfahrt. Die Wellen, die Strömung und der Wind waren gegen uns. Als wir den Flieger austrimmen wollten, um noch einen halben Knoten Geschwindigkeit herauszuholen, riss sich dessen Trimmring von den Wanten los. Wir wendeten umgehend, um die Belastung auf die andere Bordseite zu bringen, aber auch dort Schlug der Flieger so stark im Wind umher, dass auch dieser Trimmring abriss, bevor wir das Segel festmachen konnten. Stattdessen holten wir es ein. Ausserdem entdeckte ich einen kleinen Riss im Focksegel. Mit Wind, Wellen und Strom lagen wir in kürzester Zeit wieder im Westen von Conception Island am Anker und befestigten die Trimmringe wieder. Als romantische Seeleute erlauben wir uns gelegentlich etwas Aberglauben: Sea Chantey wollte nicht, dass wir uns nach Südosten bewegen – warum, erfuhren wir erst später. Um den Riss, beziehungsweise ein 10 cm und zwei 3 cm lange Risse im Fock zu nähen und mit einem Flicken zu versehen, brauchte ich einen ganzen Tag. Segeltuch, bei uns sogenanntes Dakron, ist sehr dicht, zäh zu durchstechen und knickresistent, weshalb das Nähen selbst mit dem Segelmacherhandschuh eine Herausforderung war. Ein Segelmacher hätte auch von der anderen Seite einen Flicken aufgenäht, aber es war schon abends und Reto musste gefüttert werden.
Der Himmel war trübe am nächsten Morgen, weshalb ich das Segel lieber verpackt lassen und den zweiten Flicken später aufnähen wollte. Wir überlegten uns noch, ob wir einen zweiten Anker ausbringen wollten, wir hörten aber nicht auf unser Gefühl. Der Wind nahm zu und es begann zu Katzen und Hunde zu regnen. Wir sassen in der brütenden Wärme der Kabine und lasen, während sich um uns herum ein Gewitter in einen Sturm verwandelte. Sea Chantey begann immer heftiger zu wippen, wurde dabei nach links und rechts geschleudert, das abbremsen der Schläge immer heftiger und lauter. Irgendwann knarzte es derartig, dass Reto aufsprang und an Deck kletterte, ich hinterher. Die Ankerkette verläuft bei Sea Chantey zwischen der Verstagung des Bugspriets hinunter, weshalb bei grossen Bewegungen nach links und rechts die Ankerkette an den Stagen ansteht und belastet. Wir entschärfen das Problem indem wir ein Seil um die Kette legen und diese nahe an den Bug ziehen, bei den Sturmwinden war es aber nicht genug gewesen. Die Kette schlug gegen die Stagen bis alle lose und zwei abgerissen waren. Wir sahen nur eine Möglichkeit das Problem zu verkleinern: Die Kette aus ihrer Rolle aushängen und direkt vom Deck nach unten ziehen lassen, damit sie weiter hinten angreift. Reto startete den Motor und schob unser Boot nach vorne, um die Kette zu entlasten, aber ich war nicht stark genug um sie auszuhängen – Platzwechsel! Reto hängte die Kette aus. Gerade rechtzeitig bevor der Wind über Süd nach Westen drehte! Die Insel bot uns nun keinen Windschatten mehr, da wir nahe am Land geankert hatten, wurde sie uns sogar gefährlich. Falls der Anker aus dem Boden ausriss, würden wir auf den Strand treiben. Reto bat mich um seine Ölzeugjacke und seinen Hut, bevor er sich in Wind und Regen ans Steuer setzte. Mich schickte er in die Kabine, um auf dem Tablet unsere Position zu beobachten. Falls wir den Anker zogen, würde er mit der Maschine das abtreiben verhindern. Da wir keinen Windschutz mehr genossen, rollten immer grössere Wellen aus Westen auf uns zu. Mehr Ankerkette ausgeben konnten wir nicht, weil die Kette unter enormer Belastung stand, die sie uns beim Ausgeben aus den Händen gerissen hätte. Schliesslich lockerten die nun einen Meter hohen Wellen den Anker und Reto musste gegen die Wellen anfahren. Während gefühlten zwei Stunden gab er immer wieder in einer Böe Gas und kuppelte aus, wenn der Wind kurz abflaute. Schliesslich drehte der Wind endlich wieder auf Ost – ein sicheres Zeichen, dass das Tief vorbeigezogen war und der Sturm sich legte. Unser Anker hielt wieder. Jedoch war nun klar, dass wir unsere Reise nach Rum Cay abbrechen mussten. Ohne vernünftigen Wetterbericht konnten wir uns zu dieser Jahreszeit nicht weiter von der Zivilisation entfernen.
Eine Cumuluswolke – wenn sowas kommt, wappnen wir uns für viel Wind, starke Böen und Regen.
Glücklicherweise hatten wir fast alle benötigten Kleinteile. Während des Vormittags reparierten wir die Bugsprietverstagung zu voller Einsatzfähigkeit. Kuhmäuler und Schäkel wurden ersetzt, Stagen nachgezogen und ein abgerissenes Stag mit einer Schnur und vielen Windungen festgezurrt. Der Tag war sonnig und der Wind mässig. Wir warteten zwar auf den Wetterbericht im Radio, wie in den Bahamas üblich kam dieser aber nicht. So stachen wir um 13:00 Uhr in See, Richtung Columbus-Denkmal auf Long Island, wo Telefonnetz hatten und wir zuallererst einen Wetterbericht herunterluden: Ein Tropischer Sturm formte sich vor den kleinen Antillen. Kein Wunder wollte unsere welterfahrene Sea Chantey nicht in diese Richtung fahren – sie hat für schlechtes Wetter einen sechsten Sinn!
Durch einen schlecht signalisierten Kanal verliessen wir die Bucht vor Georgetown gleichzeitig mit einem anderen Segler und einem grossen Motorboot, dass uns an ein Dampfschiff erinnerte. Dann zogen wir die Segel hoch und gingen auf Kurs nach Nordosten. Der Wind kam wieder einmal aus der Zielrichtung, weswegen wir uns darauf eingestellt hatten anderthalb Tage aufzukreuzen, um Rum Cay zu erreichen. Dazu hielten wir nun erst einmal auf die Südspitze von Cat Island zu. Der Wind war ganz ansehnlich, nicht zu stark, weshalb wir auch das Grosssegel setzten. Die Wellen waren dafür hoch und spitz. In diesem Tiefwassergebiet rollt vom «nahen» Atlantik her, die atlantische Dünnung ein, welche normalerweise lang und gleichmässig ist, jedoch von den vielen kleinen Inseln der Bahamas zu kurzen, spitzen Wellen zerstückelt wird. Entsprechend holperig war die Fahrt. Da ich zurzeit nicht vor Fitness strotze und wir seit Monaten keine Übernachtfahrten mit Zwei-Schicht-Betrieb mehr gewohnt sind, erbarmten wir uns unserer und entschieden die Nacht hinter Cat Island zu verbringen. Kurz nach dem Eindunkeln holten wir die Segel ein und ich dirigierte uns mit dem Scheinwerfer in eine weite Bucht, wo wir erstaunlich ruhig lagen. Kleine, violette Fische verfolgten den Strahl des Scheinwerfers, bis der Anker sicher sass.
Wir plagten uns bei Tagesanbruch wieder aus den Feder, um die Distanz nach Rum Cay hinter uns zu bringen, aber der Tag hatte anderes mit uns vor. Im grauen Morgenlicht setzten wir wieder die Segel und entschieden uns bei dem herrschenden Wind, dass Gross nicht zu benutzen. Sobald wir hinter der Landspitze hervorsegelten, sahen wir aus südosten diese dunkelgraue, hochaufgetürmte Wolkenmasse auf uns zu treiben. Wir wurden misstrauisch, aber die meisten Gewitter in den Bahamas ziehen während 15 Minuten mit Regen und Böen über einem Boot hinweg, weshalb wir unseren Kurs beibehielten. In der Wolke begann es zu leuchten, die Sicht wurde immer trüber und schliesslich prasselte der erwartete Regen auf uns nieder. Auch ohne Böen war die See wie am Vortag hoch und spitz, doch dann kräuselte sich das Wasser vor uns. «Stefy, da kommt eine Böe!», warnte Reto noch und schon erfasste uns ein Wind. Sea Chantey neigte sich erschreckend schnell nach Lee, als wollte sie umkippen. Ich luvte an, damit der Wind mehr von vorne kam und weniger stark in die Segel drückte, musste dabei aber aufpassen, die Nase unseres Schiffs nicht ganz in den Wind zu drehen, weil sonnst die Segel gefährlich zu schlagen beginnen und die Takelage beschädigen können. Mit 45 Grad Schräglage (oder mehr?) tauchten wir die Leereling ins Wasser, welches sich auf dem Deck verteilte. Ich klemmte mich im Cockpit fest und hielt so konzentriert es ging mit dem Steuer die Richtung, die sich wegen der neuen Windrichtung bis nach Osten verdrehte. In Gemeinsamen einverständnis entschieden wir den Flieger wieder einzuholen, um nicht so viel Windlast zu haben. Reto kletterte in einem weniger krassen Moment der Böe auf den Bug, wo er begann die Leinen zu klarieren, damit er dass Segel herunterziehen konnte. Ich sah mich gezwungen mehr Winddruck durch meinen Kurs zu erlauben, damit sowohl Schräglage, dafür aber auch die Segel stabil blieben. Hätten sie zu schlagen begonnen, hätte ich befürchten müssen, Dass Reto vom Baum getroffen wird uns sich verletzt. Glücklicherweise hatte mein starker Skipper den Flieger aber bald niedergerungen. Bald nach seiner Rückkehr ins Cockpit zog das Gewitter über uns hinweg. In der Ferne tauchten aber schon die nächsten Wolken die See in Dunkelheit.
Drei ähnliche Gewitter mit glücklicherweise nicht dermassen starken Böen suchten uns im Innerhalb weniger Stunden heim, dafür bewegten wir uns trotz der spitzen, bremsenden Wellen schnell. Als Reto entdeckte, dass die Verankerung des Backstags von der Belastung aus dem Deck gezogen worden war, entschieden wir bei Conception Island Schutz zu suchen, welches auf halbem Weg nach Rum Cay liegt. Das Backstag verspannt den Grossmast gegen den Wind und das Ausreissen desselben könnte Mastbruch zur Folge haben, weshalb Reto es nun straff festhielt und sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenlehnte. Leider wurden wir nämlich von noch einem Gewitter erfasst, welches uns schräg legte und mit Regen durchweichte. Der Wind war konstant, aber das Gewitter zog sich ewig dahin. Mehr als eine Stunde hing Reto pausenlos am Backstag, während Wellen und Wind uns hin und her warfen. Rund herum blitzte und donnerte es. Nach einer gefühlten Ewigkeit tat sich langsam die Sicht auf und das Gewitter zog vorüber. Die nächste «Gutwetterphase» langte gerade, um uns in die Bucht im Westen von Conception Island zu bringen, doch während des Ankermanövers brach die nächste Front über uns herein. Ich hatte noch selten solche Angst um meine Finger gehabt, wie in dieser Minute als ich die Kette durch die Hände ins Wasser hinabliess. Aber schliesslich war genug Kette draussen, der Anker hielt im kompakten Sandgrund und wir konnten uns in die Kabine verkriechen. «Jetzt hätte ich ganz gern heissi Schoggi», wünschte sich Reto beim Aufräumen der Dinge, die aus den Schränkchen gefallen waren oder sonst herumpurzelten. Während er die nassen Jacken aufhängte, wurde ich also an den Herd geschickt. Auch dass verpasste Mittagessen gab es nachzuholen. So endete der stürmische Tag früh mit je einer Doppelration heisser Schokolade mit Rum, die unsere Nerven nötig hatten.
Es ist äusserst schwer zu beschreiben, was ein Segler denkt und fühlt, wenn ein Böe es schafft ihm Angst zu machen. Sea Chantey kann vermutlich mehr als 60 Grad schief liegen, bevor vor dem Wasser auf dem Deck Angst zu haben bräuchten, weil es dann unser immer offenes Kabinentürchen erreicht. Erst dann ist die ungeheure Auftriebskraft von Sea Chanteys Rumpf gefährdet, die dank des schweren, weit vom Drehpunkt der Krängung entfernten Kiel unser Schiff vermutlich selbst dann wieder aufrichten würde, wenn es flach im Wasser liegt. Aber das Wissen in einem sehr sicheren Schiff zu sitzen, schützt nicht vor der Angst ins Wasser zu rollen, den Mast zu verlieren oder den geliebten Partner verletzt oder von Bord fallen zu sehen. Das Gehirn bildet tausend furchtbare Szenarien, während man sich festklammert und versucht die Nerven zu behalten. Was tue ich wenn…? Das Hirn produziert Notfallpläne und findet auch sofort tausend Möglichkeiten wie die Situation noch schlechter werden könnte. Jede Welle wird zum Schreckensmoment. Mit der fehlenden Regelmässigkeit solcher Strapazen werden auch Segler mürbe, die wie wir schon 4000 Meilen auf dem Buckel haben. Sowohl ich als auch der noch zähere Reto hatten Angst in der ersten, wirklich erschreckenden Böe. Es braucht viel, dass ich mir überlege, ob beten jetzt angebracht wäre. Reto beginnt in solchen Momenten zu fluchen, was er ja sonst sehr sparsam tut. Ich beginne zu singen, weil ich mir keine Stossgebete eingestehen kann. Je zerriebener meine Nerven sind, umso eher brauche ich die aufmunternden Texte, weshalb mich Reto durch das ganze «letzte» Gewitter die gleiche Strophe wiederholen hörte. Wir bedanken uns nach solchem Wetter häufig bei unserem Schiff, weil es uns wieder in Sicherheit gebracht hat.
But singing sailors afraids nothing
They brave just the storm
All this men hopa and sing
And the storms flee of this song
Wir wollten in Georgetown nur kurz halten um einzukaufen, schlussendlich sassen wir aber fast drei Tage in dem grössten Nest der Insel Great Exuma. Eigentlich fing alles ganz gut an. Wir hatten eine kurze ruhige Überfahrt und weil das Essen in der Drunken Duck in Wasser gefallen war, gönnten wir uns Abendessen bei Choppy’s Bar. Hähnchen und Rindfleisch kam uns sehr gelegen und ein kaltes Bier brachte sogar Reto wieder in Stimmung, der an dem Abend etwas genervt gewesen war. Auch der Einkauf am Folgetag war ganz in Ordnung, die Preise für die Bahamas normal und im Grossen und Ganzen war alles erhältlich, was wir haben wollten. Sogar Eis gab es bei Exuma Market zu kaufen, womit wir aber sparsam blieben. Wir schafften sogar alles ins Dinghy zu verstauen, wobei die gute Alianza sehr tief im Wasser lag und ich AUF den Einkäufen sitzen musste. Gegen den Wind ruderte Reto uns in die weite Bucht hinaus. Leider fassten wir schon durch die spitzen Wellen hin und wieder Wasser, es hätte das Schnellboot nicht gebraucht, dass auf den letzten dreissig Metern zwischen uns und Sea Chantey hindurchschoss. Dank der Heckwelle musste ich auf den Einkäufen herumturnen und zwischen Retos Beinen hindurch Wasser ausschöpfen, damit wir nicht am Ende noch absoffen. Wir entluden Alianza so schnell es ging, aber dennoch hatte die heisse Sonne und das Salzwasser im Boot unser wertvolles Eis schon halb geschmolzen.
Laut unserem Reiseführer sei Georgetown eine hübsche Ortschaft mit vielen Bäckereien, einer Tankstelle, die Propangas auffüllte und vielen kleinen Läden. Ebenfalls nach Reiseführer riefen wir diesmal Elvis, das Wassertaxi. Nachdem der Chauffeur während einer Stunde schon drei Mal an uns vorbei gefahren war, holte er uns tatsächlich ab. Die Tankstelle schickte uns mit dem Propantank weiter, aber der Laden, den uns die Dame im Tankstellenshop angegeben hatte, organisierte uns tatsächlich Gas – für den nächsten Tag. Wir sahen uns die kleine Stadt zu Fuss an, wofür man vielleicht zwanzig Minuten braucht, wenn man nicht einkauft. Ich kaufte eine luftige, weisse Hose in einem kleinen Geschäft, dann fanden wir ein Cafe/Bäckerei/Pizzaria, die geöffnet war. Wir assen Pizza, aber Brot hatten sie gerade keines mehr, daher bestellte ich mit etwas schlechtem Gefühl ein Brot auf Morgen. Um eine Taxifahrt zu sparen und um das Boot aufzuräumen, bevor wir uns in Unbewohntes Gebiet begaben, schickte ich Reto am Tag danach allein, um alles bestellte abzuholen und noch einmal bei Exuma Market reinzuschauen. Zwei Stunden später kam er mit dem Gas und einer riesigen Portion Fleisch zurück, aber ohne Brot: Es war noch nicht fertig gewesen und Reto war das Warten zu doof gewesen. Als wir es am Nachmittag holen wollten, kam das Wassertaxi nicht um uns zu holen. Genervt von der bahamischen Unzuverlässigkeit überlegten wir uns schon, das dumme Brot sausen zu lassen und ohne abzufahren. Doch starteten wir am nächsten Morgen früh in den Tag und legten kurzerhand am leeren Dock des Versorgungsschiffes an, ich holte in Windeseile das Brot ab, besorgte zwei Säcke Eis und wir machten uns auf dem Weg.