Isaias

Am Montag, 27. Juli kamen wir wieder in Georgetown an. Hier hatten wir zunächst zwei Prioritäten: Einkaufen und Vorbereitung auf den anrückenden Sturm. Wir ankerten nahe der Bucht mit den angrenzenden Blue Holes, die als Hurricane Hole bekannt waren und ich wurde mit dem um eine ganze Stunde verspäteten Wassertaxi in die «Stadt» geschickt. Die Einkaufsliste: Bargeld, Schäkel und Fender aus dem Hardware Store, frische Lebensmittel für den Vitaminhaushalt, Eis. Die Bankomaten bei der ersten Bank waren längst leer, erst bei der zweiten liess sich Notfallgeld beschaffen. Auch im Hardware Store mit dem vielversprechenden Namen «Top 2 Bottom» fand ich nur die Hälfte, besonders auf den Ersatz unseres luftlosen Fenders musste ich verzichten. Trotz des Drangs, sich gut vorzubereiten, musste ich sparsam einkaufen, denn mehr als zwei Säcke Lebensmittel und zwanzig Pfund Eis kann ich alleine nicht tragen. Als ich endlich am Pier das Wassertaxi bestieg, war ich so hinüber, dass ich mich über die Nektarinen hermachte, bis endlich der Taxichauffeur auftauchte. Tatsächlich überlebte der Grossteil der Eiswürfel die Überfahrt zu Sea Chantey, wo Reto schon dabei war, die Segel von ihren Bäumen zu lösen. Er war sehr erfolgreich gewesen, denn nach zwei Anläufen hatte er es geschafft auf Stocking Island eine Mooring zu mieten. Wir würden unser Boot im sogenannten Loch Drei hinter rundumliegenden Hügelkuppen verstecken können, die uns vor grossen Wellen schützen und vor den stärksten Sturmböen abschirmen würden. Die Einfahrt war dafür nicht einfach, da die natürliche Einfahrtsstelle zwischen Loch Null (das nur im Osten Hügel aufweist und im Westen zur Bucht hin offen ist) und Loch Zwei (nördlich von Loch Null) so seicht ist, dass wir nur bei Flut hindurchkommen. Kaum eine Stunde nach meiner Rückkehr stand ich auf dem Bugspriet und dirigierte uns zwischen dem garstigen Felsen und einer Sandbank hindurch. Die Einfahrt in Loch Drei, das nördlichste der vier Blue Holes, welches mit den höchsten Hügeln umgeben ist, war dafür ein Klacks. Mit unseren dicksten Leinen vertäuten wir uns an einer Mooring, umgeben von fünfzehn anderen Schiffen jeder Grösse. Dann demontierten wir zunächst alle Segel, holten alle Flaggen ein und liessen alles unter Deck verschwinden, was nicht niet- und nagelfest ist. Ausserdem ketteten wir unsere schwersten Anker aneinander, damit wir diese mit Fall, dass die Mooring sich löste, fallenlassen könnten. Auch am Folgetag taten wir, was uns einfiel: Wir umwickelten die Leinen mit Tuch um sie vor durchschaben zu schützen, klebten die Solarpanels mit Tuck Tape ans Kabinendach und Reto überprüfte bei einem Tauchgang die Mooring. Er fand dabei eine zweite Schlaufe, durch welche wir anschliessend die dicken Leinen führten, weil es uns besser erschien. Dabei half uns Bob, selbst seinen Katamaran durch den Sturm bringen musste. Ken, den wir am Vortag kennengelernt hatten, brachte uns aus der Stadt noch einmal zwei Säcke Eis. Auch die übrigen, wenigen Cruisers, die den Sturm hier verbringen würden lernten wir bei einem Ausflug an den Strand kennen. Alle versuchten sich nicht zu viele Sorgen und Gedanken zu dem Sturm zu machen, der derweil über die Dominikanische Republik zog. Wir waren sicher, getan zu haben, was wir konnten um unsere Boote und uns zu beschützen – nun mussten wir warten.

Windig aber traumhaft schön – wer würde denken dass nachts ein Hurricane vorbeifegt?
Hole 3

Am Morgen des 31. Juli hatte der Tropische Sturm nicht nur einen Kurs weiter nördlich eingeschlagen, sondern auch ein Auge ausgebildet. Damit war er nun zum Hurricane herangewachsen und hatte den Namen Isaias bekommen. Leider würde er Nahe an uns vorbeiziehen, aber wir konnten nicht mehr tun als zu warten. Mit Büchern, Musik und Blogbeiträgen lenkten wir uns von dem kommenden, wüstesten Wetter ab, dass wir je erlebt hatten. Vormittags war es sonnig, Wolkenfronten zogen über uns hinweg, aber das Wetter hätte niemals einen Hurricane erwarten lassen. Erst nach dem Mittag zog eine dunkle Wolkendecke auf, die mit erstaunlicher Geschwindigkeit über uns hinweg zog, aber kein Ende mehr nahm. Wir checkten regelmässig die Position des Sturms aus – Reto hatte dafür extra ein zusätzliches Datenpaket bei Swisscom erstanden – und sahen Isaias zu, wie er nördlich von Kuba seinen Kurs anpasste, um uns sicher zu erwischen. Wir schluckten jeweils leer: Wenn der Sturm vorbeizog, würden wir zwar starke Winde haben, aber nur aus drei Himmelsrichtungen, durch die er langsam drehte. Mussten wir durch das Auge, würden wir erst Winde aus Westen haben, dann die Windstille im Auge des TSurm aussitzen und sehr abrupt an den Ostwinden um unsere Mooringboje schwingen, was sehr viel Materialbelastender ist, als wenn das Auge vorbeizieht. Dies ist der Moment, wenn Mooringsteine oder Klampen ausreissen, Leinen lassen oder Masten brechen. Während des Nachmittags nahm der Wind an Stärke zu, drückte uns an der Mooring hin und her und warf 30 cm hohe Wellen in der fast geschlossenen Bucht auf, die Loch Drei genannt wird. Loch Drei ist nur 250 m lang und 150 m breit. Ein Fuss hohe Wellen aufzuwerfen bedeutete 35 Knoten Wind zu «geniessen». Bis es nach sieben Uhr einzudunkeln begann, schaukelten uns fast zwei Fuss hohe Wellen. Dann sahen wir nichts mehr: Kein Mondlicht drang durch die Wolken, kein Licht von irgendwoher vermochten wir auszumachen. Der Sturm heulte laut und wir spürten seine enorme Kraft gegen die Kabinenwände drücken. Sea Chantey bewegte den Bug hoch und hinunter, wie auf dem offenen Meer. Es war unheimlich, aber mich persönlich ängstigte es nicht mehr als der letzte Sturm, den wir vor Conception Island abgewettert hatten. Dennoch konnten wir nicht mehr lesen. Stumm hörten wir Isaias heulen, spürten Sea Chanteys Bewegungen, schätzen die Wellenhöhe und sahen der natürlich nicht brennenden Petrollampe beim schwingen zu. Erst gegen morgens um zwei Uhr schien das heulen abzunehmen und ich versuchte zu schlafen, aber ebenso wie Reto lag ich noch stundenlang wach.

Unser Nachbarschiff Sirocco. Während Isaias tobte, schaukelte sie fast einen Meter hoch und runter.

Als ich schliesslich gegen Mittag wieder aufwachte, schien die Sonne und kein Lüftlein wehte, als wäre nie etwas gewesen. Wir stellten auf den ersten Blick auch keine Schäden fest, daher legten wir uns trotz der Hitze wieder aufs Ohr und verschliefen den Nationalfeiertag. Nicht einmal die Landesflagge setzten wir wieder am Besanmast.

Eine lange Nacht

Ich möchte mich an dieser Stelle bei meinen Lesern und Leserinnen herzlich entschuldigen. Ich war gezwungen meinen Blog etwas zu vernachlässigen, weshalb seit bald zwei Wochen kein neuer Beitrag online ging. Dafür darf ich freudig das baldige Erscheinen meines Buches als illustriertes Hardcover ankündigen. Da es noch einmal neu lektoriert wurde, war ich mit der Prüfung der Anpassungen beschäftigt. Nun werde ich meine begrenzte, schriftstellerische Schaffenszeit wieder meinem Blog widmen. Ich wünsche euch von Herzen viel Spass beim Lesen.

Nachdem wir uns von James verabschiedet hatten, folgte eine kurze Nacht. Wir wollten am Morgen früh ablegen, weshalb wir lange vor Sonnenaufgang aufstanden und in eisiger Kälte die Leinen losmachten. Wieder hatten wir kaum Wind, weshalb wir zum zweiten Mal unter Motor Outer Island passierten. Doch mit dem ersten Licht im Osten frischte der Wind auf und blies uns wie erwartet kalt in den Rücken. Bis zu Nova Scotias letzten Inseln fuhren wir unter Motor, dort entschieden wir uns die Segel zu setzten. Im Windschatten von Seal Island setzten wir alle Segel. Durch die starken Gezeiten in der Bay of Fundy entstanden auch hier strake Strömungen und Wasserturbulenzen. Mit zünftigem Druck in den Segeln schnitten wir aber problemlos durch diese hindurch und wurden kaum geschaukelt. Einige kalte Stunden später passierten wir ebenso auch eine weitere Untiefe, die Strömungswellen aufwarf. Wir wechselten uns derweil alle zwei Stunden am Steuer ab. Wegen der grauenhaften Kälte, die uns in die Kleider kroch und unsere Hände und Füsse taub werden liess, hielt nicht einmal Reto es länger aus. Die Windstile in der Kabine kaum uns jeweils richtig warm vor, wenn wir endlich eine Weile dösen konnten. Ich kochte uns zwar einen grossen Topf voll Chili, wir waren aber wegen des Seegangs beide nicht besonders hungrig. Je später der Tag wurde umso mehr frischte der Wind auf. Kurz vor Sonnenuntergang holten wir daher das Grosssegel ein, um weniger Krängung (Schieflage) zu haben. Wir wussten, dass nachts starker – sehr starker – Wind aufkommen würde, daher wetterten mit dem letzten Tageslicht ab. Durchgefroren wechselten wir uns eisern am Steuer ab. Die Nacht kam, es wurde noch kälter und die Wellen wurden immer höher, aber wir näherten uns zusehends dem amerikanischen Festland. Jede Meile mehr, die unser Kartenplotter anzeigte, war ein Erfolg.

Alleine nachts bei unangenehmem Wetter am Steuer zu sitzen ist ein Nerven zerreibendes Erlebnis. Ich betete bei jeder Welle zu unserem Schiff, beschwor es nicht Wasser zu fassen und sich nicht drehen zu lassen. Nach jeder Welle erleichterte mich, dass Sea Chantey sich wieder aufrichtete, nur um meinen Mut wieder zu sammeln und mich auf die nächste Welle zu konzentrieren. Manchmal bedankte ich mich bei unserm Schiff, das alles selbst im Griff zu haben schien und ich mich nur auf das Steuerrad konzentrieren musste. Ich musste viel steuern, umso länger wir unterwegs waren umso mehr musste ich am Rad drehen und umso mehr Kraft musste ich dafür aufwenden. Es schien immer eine unendlich lange Zeit zu vergehen, bis Reto mich ablöste und ich wieder in die schwankende Kabine klettern konnte, nur um eine Zeit zu dösen. Meine Glieder wurden nicht mehr warm während meiner Freiwachen. Ich trat die nächste Wache jedes mal wieder durchgefroren an.

Sehr früh am Morgen, vielleicht um eins, wurde der Wind noch einmal stärker und änderte die Richtung leicht. Wir krängten mehr und das Wellensystem änderte sich. Die Wellen der ersten Windrichtung und die der neuen Windrichtung verlaufen durcheinander, weshalb die gefühlten Wellen unregelmässiger und manchmal auch immens viel grösser werden. So erfassten uns gelegentlich Wellen über die sich Sea Chantey nur mit viel Muskelkraft führen liess. Dazu begann es zu regnen. Aber wir kämpften uns vorwärts und die Lichter der Fischerboote bestätigte uns die Nähe zum Land. Gegen drei oder vier Uhr gab die Küstenwache via Funkgerät durch, dass ein Segelboot gesucht wurde, aber wir waren zurzeit keine nützlichen Helfer, weshalb wir auf Kurs blieben. Morgens gegen fünf Uhr nahm Reto Kontakt auf mit der verschlafenen Zollbehörde: Ob er denn wisse wie viel Uhr es sei?? Doch sie nahmen unsere Daten auf, weshalb wir nun die Erlaubnis bekamen an einem Steg anzubinden. Draussen waren bis dahin schon die Leuchttürme an der Küste zu sehen. Beim ersten Tageslicht fuhren wir in die Bucht zwischen der Mount Desert Island und dem Festland. Wir mussten grausam aufpassen, damit wir nicht mit dem Propeller an der Boje eines Hummerkorbs hängenblieben. Dann holten wir die Segel ein und fuhren zwischen den steilen, hohen Inseln hindurch nach Bar Harbour, Maine, USA. Da der Pier den wir dem Zoll angegeben hatten für den Winter entfernt wurde, entschieden uns für den erstbesten Pier, den wir finden konnten. Neben einem riesigen Whale-Watching-Boot machten wir fest, obwohl uns ein Einwohner darauf aufmerksam machte, dass dies ein rauer Steg sei. Aber morgens um acht Uhr kippten wir ins Bett, ohne uns darum weiter zu kümmern.

Am frühen Nachmittag klopften zwei Zollbeamte an unser Dach. Vollkommen verschlafen folgten wir den bewaffneten Officers ins Whale Wachting Terminal, wo sie unsere Personalien aufnahmen und uns ein Crusing Permit besorgten. Ausserdem berichteten sie uns von dem 40 Fuss langen Segelboot, dass verloren gegangen war, während wir unterwegs waren. Man musste annehmen, dass es gesunken war. Bei der Information bekam ich ein eigenartiges Gefühl und einen Kloss im Hals: Das hätten wir sein können. Immer noch todmüde gingen wir in ein Pub, assen und recherchierten über Monsterwellen. Sogenannte «drei Schwestern» hatten uns diese Nacht heimgesucht. Dann kippten wir wieder in unsere Koje, aber nur für kurze Zeit. Der Sturm verursachte im Hafen solche Wellen, das Sea Chantey gegen den Pier geschlagen wurde. Sie verlor glücklicherweise nur etwas Farbe, aber das Geräusch der knarrenden Fender war unerträglich. Auch scheuerten drei von fünf Seilen durch, die wir mitten in der Nach ersetzen mussten. Reto bediente sich dazu der grossen Anbindeleinen des Whale-Watching-Boots, so das wir uns zumindest nicht mehr sorgen mussten. Aber wegen der Geräusche und der Wellen schliefen wir kaum. Nie wieder würden wir nach Bar Harbor kommen!

Übrigens: Das verlorene Segelboot wurde einen Tag später in New Jersey gefunden. Die Crew war wohlauf.