Flicken ohne Ende

Zunächst musste natürlich das Backstag repariert werden. Nach einem Tag voller Gewitterstürme, folgte ein sonniger Tag in der Bucht einer tropischen Insel. Das Backstag hatte seine Holzschrauben aus der Stirnseite seines Spants gerissen und hing nur noch an drei Mal zwei Gewindegängen. Eine Schraube hatte ein sauberes rundes Loch aus der Planke gerissen, weil diese nicht im Spant steckte. Um sie zu ersetzten mussten wir von der Schiffsinnenseite daran herankommen, was uns vor einige Probleme stellte. Leider war das Schraubenloch nicht von der Kabine erreichbar, sondern nur von dem Stauraum unter dem Deck. Durch eine kleine Luke musste sich einer von uns in diesen geschlossenen Raum zwängen, den Heisswassertank lösen und zur Seite schieben und sich schliesslich zwischen die Isolation der Eisbox und der Bordwand einnisten um von dort die Mutter auf die Schraube zu drehen. Ich, die Kleinere mit den schmalen Händen, wäre prädestiniert für den Auftrag gewesen, aber meine Nerven waren vom Vortag noch so strapaziert, dass ich beim losschrauben des Heisswassertank schon Platzangst bekam. Warum ich – für mich untypisch – momentan solch schwache Nerven habe, erkläre ich jenen im folgenden Beitrag, die es noch nicht wissen. Reto musste also seine breiten Schultern zwischen den «Boiler» und die Eisbox zwängen, wofür ich mich nicht wenig schämte. Reto mischte Epoxid zum Abdichten an und wir schraubten die Ankerplatte des Backstags mit langen Holzschrauben wieder in den Spant. Dann kroch Reto mit Mutter und Unterlagscheibe in Sea Chanteys Tiefen hinab. «Du musst mich dann halt freisägen, falls ich stecken bleibe», rächte er sich dafür bei mir. Dummerweise kam er mit den Fingern fast nicht zwischen die Schiffskonstruktion und während uns das Epoxid wegtrocknete, mussten wir kreativ werden. Was mit den Händen nicht klappte, klappte vielleicht mit einem Werkzeug? Reto schlug Mutter, Spannscheibe und Unterlagscheibe in ein Stück Holz, aber die Scheibe verlor er auf dem Weg in die Tiefe, weshalb ich sie mit ein bisschen Honig auf das Holzstück klebte. Dennoch liess sich die Schraube nicht ansetzten, weil die Holzplatte sich kaum positionieren liess. So hatte ich das Holz zurecht zu sägen, während Reto hinter der Eisbox verblieb. Damit fanden wir doch zumindest heraus, dass die Schraube zu nahe an der Spante platziert war, um die Scheibe darüberzustülpen. Daher reckte er sich und hielt mühsam die Mutter mit einem Finger auf das Schraubenende, während ich von oben die Schraube drehte. Nach drei Versuchen und aufgebrachtem Fluchen von unter den Planken griff die Schraube endlich! Nun konnte Reto die Mutter mit einer Zange halten bis ich die Schraube festgedreht hatte. Ich übernahm das Aufräumen, nachdem Reto mit einem Getränk versorgt war.

Werkzeug
Corpus delicti

Sobald 24 Stunden später das Epoxid trocken war, brachen wir auf. Wir waren noch mürbe von den Gewitterfronten und probierten mehr Wind und Wellen aus, als dass wir wirklich den Tripp nach Rum Cay durchziehen wollten. Wegen des starken Seegangs, der Sea Chantey wieder und wieder bremste, errechneten wir eine Ankunft mitten in der Nacht. Wegen den Riffen, die sich rund um die meisten bahamischen Inseln ziehen, wollten wir lieber bei Tageslicht ankommen. Gegen vier Uhr wendeten wir, machten es uns hinter Conception Island gemütlich und machten einen Ausflug an Land. Zumal wir den Ankerplatz mit dem grossen, wie ein Dampfschiff aussehenden Tauchtourboot teilten, welches Georgetown mit uns verlassen hatte, hatten wir auch jemanden für ein wenig Smalltalk. Mit den Leuten von den Charterjachten, die täglich ihre Liegestühle am Strand aufstellten, sprachen wir nicht. Am Folgetag machten wir uns früh auf den Weg, um es sicher bis Rum Cay zu schaffen, aber irgendetwas verwehrte uns die Überfahrt. Die Wellen, die Strömung und der Wind waren gegen uns. Als wir den Flieger austrimmen wollten, um noch einen halben Knoten Geschwindigkeit herauszuholen, riss sich dessen Trimmring von den Wanten los. Wir wendeten umgehend, um die Belastung auf die andere Bordseite zu bringen, aber auch dort Schlug der Flieger so stark im Wind umher, dass auch dieser Trimmring abriss, bevor wir das Segel festmachen konnten. Stattdessen holten wir es ein. Ausserdem entdeckte ich einen kleinen Riss im Focksegel. Mit Wind, Wellen und Strom lagen wir in kürzester Zeit wieder im Westen von Conception Island am Anker und befestigten die Trimmringe wieder. Als romantische Seeleute erlauben wir uns gelegentlich etwas Aberglauben: Sea Chantey wollte nicht, dass wir uns nach Südosten bewegen – warum, erfuhren wir erst später. Um den Riss, beziehungsweise ein 10 cm und zwei 3 cm lange Risse im Fock zu nähen und mit einem Flicken zu versehen, brauchte ich einen ganzen Tag. Segeltuch, bei uns sogenanntes Dakron, ist sehr dicht, zäh zu durchstechen und knickresistent, weshalb das Nähen selbst mit dem Segelmacherhandschuh eine Herausforderung war. Ein Segelmacher hätte auch von der anderen Seite einen Flicken aufgenäht, aber es war schon abends und Reto musste gefüttert werden.

Der Himmel war trübe am nächsten Morgen, weshalb ich das Segel lieber verpackt lassen und den zweiten Flicken später aufnähen wollte. Wir überlegten uns noch, ob wir einen zweiten Anker ausbringen wollten, wir hörten aber nicht auf unser Gefühl. Der Wind nahm zu und es begann zu Katzen und Hunde zu regnen. Wir sassen in der brütenden Wärme der Kabine und lasen, während sich um uns herum ein Gewitter in einen Sturm verwandelte. Sea Chantey begann immer heftiger zu wippen, wurde dabei nach links und rechts geschleudert, das abbremsen der Schläge immer heftiger und lauter. Irgendwann knarzte es derartig, dass Reto aufsprang und an Deck kletterte, ich hinterher. Die Ankerkette verläuft bei Sea Chantey zwischen der Verstagung des Bugspriets hinunter, weshalb bei grossen Bewegungen nach links und rechts die Ankerkette an den Stagen ansteht und belastet. Wir entschärfen das Problem indem wir ein Seil um die Kette legen und diese nahe an den Bug ziehen, bei den Sturmwinden war es aber nicht genug gewesen. Die Kette schlug gegen die Stagen bis alle lose und zwei abgerissen waren. Wir sahen nur eine Möglichkeit das Problem zu verkleinern: Die Kette aus ihrer Rolle aushängen und direkt vom Deck nach unten ziehen lassen, damit sie weiter hinten angreift. Reto startete den Motor und schob unser Boot nach vorne, um die Kette zu entlasten, aber ich war nicht stark genug um sie auszuhängen – Platzwechsel! Reto hängte die Kette aus. Gerade rechtzeitig bevor der Wind über Süd nach Westen drehte! Die Insel bot uns nun keinen Windschatten mehr, da wir nahe am Land geankert hatten, wurde sie uns sogar gefährlich. Falls der Anker aus dem Boden ausriss, würden wir auf den Strand treiben. Reto bat mich um seine Ölzeugjacke und seinen Hut, bevor er sich in Wind und Regen ans Steuer setzte. Mich schickte er in die Kabine, um auf dem Tablet unsere Position zu beobachten. Falls wir den Anker zogen, würde er mit der Maschine das abtreiben verhindern. Da wir keinen Windschutz mehr genossen, rollten immer grössere Wellen aus Westen auf uns zu. Mehr Ankerkette ausgeben konnten wir nicht, weil die Kette unter enormer Belastung stand, die sie uns beim Ausgeben aus den Händen gerissen hätte. Schliesslich lockerten die nun einen Meter hohen Wellen den Anker und Reto musste gegen die Wellen anfahren. Während gefühlten zwei Stunden gab er immer wieder in einer Böe Gas und kuppelte aus, wenn der Wind kurz abflaute. Schliesslich drehte der Wind endlich wieder auf Ost – ein sicheres Zeichen, dass das Tief vorbeigezogen war und der Sturm sich legte. Unser Anker hielt wieder. Jedoch war nun klar, dass wir unsere Reise nach Rum Cay abbrechen mussten. Ohne vernünftigen Wetterbericht konnten wir uns zu dieser Jahreszeit nicht weiter von der Zivilisation entfernen.

Eine Cumuluswolke – wenn sowas kommt, wappnen wir uns für viel Wind, starke Böen und Regen.

Glücklicherweise hatten wir fast alle benötigten Kleinteile. Während des Vormittags reparierten wir die Bugsprietverstagung zu voller Einsatzfähigkeit. Kuhmäuler und Schäkel wurden ersetzt, Stagen nachgezogen und ein abgerissenes Stag mit einer Schnur und vielen Windungen festgezurrt. Der Tag war sonnig und der Wind mässig. Wir warteten zwar auf den Wetterbericht im Radio, wie in den Bahamas üblich kam dieser aber nicht. So stachen wir um 13:00 Uhr in See, Richtung Columbus-Denkmal auf Long Island, wo Telefonnetz hatten und wir zuallererst einen Wetterbericht herunterluden: Ein Tropischer Sturm formte sich vor den kleinen Antillen. Kein Wunder wollte unsere welterfahrene Sea Chantey nicht in diese Richtung fahren – sie hat für schlechtes Wetter einen sechsten Sinn!

Windige Angelegenheit

Durch einen schlecht signalisierten Kanal verliessen wir die Bucht vor Georgetown gleichzeitig mit einem anderen Segler und einem grossen Motorboot, dass uns an ein Dampfschiff erinnerte. Dann zogen wir die Segel hoch und gingen auf Kurs nach Nordosten. Der Wind kam wieder einmal aus der Zielrichtung, weswegen wir uns darauf eingestellt hatten anderthalb Tage aufzukreuzen, um Rum Cay zu erreichen. Dazu hielten wir nun erst einmal auf die Südspitze von Cat Island zu. Der Wind war ganz ansehnlich, nicht zu stark, weshalb wir auch das Grosssegel setzten. Die Wellen waren dafür hoch und spitz. In diesem Tiefwassergebiet rollt vom «nahen» Atlantik her, die atlantische Dünnung ein, welche normalerweise lang und gleichmässig ist, jedoch von den vielen kleinen Inseln der Bahamas zu kurzen, spitzen Wellen zerstückelt wird. Entsprechend holperig war die Fahrt. Da ich zurzeit nicht vor Fitness strotze und wir seit Monaten keine Übernachtfahrten mit Zwei-Schicht-Betrieb mehr gewohnt sind, erbarmten wir uns unserer und entschieden die Nacht hinter Cat Island zu verbringen. Kurz nach dem Eindunkeln holten wir die Segel ein und ich dirigierte uns mit dem Scheinwerfer in eine weite Bucht, wo wir erstaunlich ruhig lagen. Kleine, violette Fische verfolgten den Strahl des Scheinwerfers, bis der Anker sicher sass.

Wir plagten uns bei Tagesanbruch wieder aus den Feder, um die Distanz nach Rum Cay hinter uns zu bringen, aber der Tag hatte anderes mit uns vor. Im grauen Morgenlicht setzten wir wieder die Segel und entschieden uns bei dem herrschenden Wind, dass Gross nicht zu benutzen. Sobald wir hinter der Landspitze hervorsegelten, sahen wir aus südosten diese dunkelgraue, hochaufgetürmte Wolkenmasse auf uns zu treiben. Wir wurden misstrauisch, aber die meisten Gewitter in den Bahamas ziehen während 15 Minuten mit Regen und Böen über einem Boot hinweg, weshalb wir unseren Kurs beibehielten. In der Wolke begann es zu leuchten, die Sicht wurde immer trüber und schliesslich prasselte der erwartete Regen auf uns nieder. Auch ohne Böen war die See wie am Vortag hoch und spitz, doch dann kräuselte sich das Wasser vor uns. «Stefy, da kommt eine Böe!», warnte Reto noch und schon erfasste uns ein Wind. Sea Chantey neigte sich erschreckend schnell nach Lee, als wollte sie umkippen. Ich luvte an, damit der Wind mehr von vorne kam und weniger stark in die Segel drückte, musste dabei aber aufpassen, die Nase unseres Schiffs nicht ganz in den Wind zu drehen, weil sonnst die Segel gefährlich zu schlagen beginnen und die Takelage beschädigen können. Mit 45 Grad Schräglage (oder mehr?) tauchten wir die Leereling ins Wasser, welches sich auf dem Deck verteilte. Ich klemmte mich im Cockpit fest und hielt so konzentriert es ging mit dem Steuer die Richtung, die sich wegen der neuen Windrichtung bis nach Osten verdrehte. In Gemeinsamen einverständnis entschieden wir den Flieger wieder einzuholen, um nicht so viel Windlast zu haben. Reto kletterte in einem weniger krassen Moment der Böe auf den Bug, wo er begann die Leinen zu klarieren, damit er dass Segel herunterziehen konnte. Ich sah mich gezwungen mehr Winddruck durch meinen Kurs zu erlauben, damit sowohl Schräglage, dafür aber auch die Segel stabil blieben. Hätten sie zu schlagen begonnen, hätte ich befürchten müssen, Dass Reto vom Baum getroffen wird uns sich verletzt. Glücklicherweise hatte mein starker Skipper den Flieger aber bald niedergerungen. Bald nach seiner Rückkehr ins Cockpit zog das Gewitter über uns hinweg. In der Ferne tauchten aber schon die nächsten Wolken die See in Dunkelheit.

Drei ähnliche Gewitter mit glücklicherweise nicht dermassen starken Böen suchten uns im Innerhalb weniger Stunden heim, dafür bewegten wir uns trotz der spitzen, bremsenden Wellen schnell. Als Reto entdeckte, dass die Verankerung des Backstags von der Belastung aus dem Deck gezogen worden war, entschieden wir bei Conception Island Schutz zu suchen, welches auf halbem Weg nach Rum Cay liegt. Das Backstag verspannt den Grossmast gegen den Wind und das Ausreissen desselben könnte Mastbruch zur Folge haben, weshalb Reto es nun straff festhielt und sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenlehnte. Leider wurden wir nämlich von noch einem Gewitter erfasst, welches uns schräg legte und mit Regen durchweichte. Der Wind war konstant, aber das Gewitter zog sich ewig dahin. Mehr als eine Stunde hing Reto pausenlos am Backstag, während Wellen und Wind uns hin und her warfen. Rund herum blitzte und donnerte es. Nach einer gefühlten Ewigkeit tat sich langsam die Sicht auf und das Gewitter zog vorüber. Die nächste «Gutwetterphase» langte gerade, um uns in die Bucht im Westen von Conception Island zu bringen, doch während des Ankermanövers brach die nächste Front über uns herein. Ich hatte noch selten solche Angst um meine Finger gehabt, wie in dieser Minute als ich die Kette durch die Hände ins Wasser hinabliess. Aber schliesslich war genug Kette draussen, der Anker hielt im kompakten Sandgrund und wir konnten uns in die Kabine verkriechen. «Jetzt hätte ich ganz gern heissi Schoggi», wünschte sich Reto beim Aufräumen der Dinge, die aus den Schränkchen gefallen waren oder sonst herumpurzelten. Während er die nassen Jacken aufhängte, wurde ich also an den Herd geschickt. Auch dass verpasste Mittagessen gab es nachzuholen. So endete der stürmische Tag früh mit je einer Doppelration heisser Schokolade mit Rum, die unsere Nerven nötig hatten.

Es ist äusserst schwer zu beschreiben, was ein Segler denkt und fühlt, wenn ein Böe es schafft ihm Angst zu machen. Sea Chantey kann vermutlich mehr als 60 Grad schief liegen, bevor vor dem Wasser auf dem Deck Angst zu haben bräuchten, weil es dann unser immer offenes Kabinentürchen erreicht. Erst dann ist die ungeheure Auftriebskraft von Sea Chanteys Rumpf gefährdet, die dank des schweren, weit vom Drehpunkt der Krängung entfernten Kiel unser Schiff vermutlich selbst dann wieder aufrichten würde, wenn es flach im Wasser liegt. Aber das Wissen in einem sehr sicheren Schiff zu sitzen, schützt nicht vor der Angst ins Wasser zu rollen, den Mast zu verlieren oder den geliebten Partner verletzt oder von Bord fallen zu sehen. Das Gehirn bildet tausend furchtbare Szenarien, während man sich festklammert und versucht die Nerven zu behalten. Was tue ich wenn…? Das Hirn produziert Notfallpläne und findet auch sofort tausend Möglichkeiten wie die Situation noch schlechter werden könnte. Jede Welle wird zum Schreckensmoment. Mit der fehlenden Regelmässigkeit solcher Strapazen werden auch Segler mürbe, die wie wir schon 4000 Meilen auf dem Buckel haben. Sowohl ich als auch der noch zähere Reto hatten Angst in der ersten, wirklich erschreckenden Böe. Es braucht viel, dass ich mir überlege, ob beten jetzt angebracht wäre. Reto beginnt in solchen Momenten zu fluchen, was er ja sonst sehr sparsam tut. Ich beginne zu singen, weil ich mir keine Stossgebete eingestehen kann. Je zerriebener meine Nerven sind, umso eher brauche ich die aufmunternden Texte, weshalb mich Reto durch das ganze «letzte» Gewitter die gleiche Strophe wiederholen hörte. Wir bedanken uns nach solchem Wetter häufig bei unserem Schiff, weil es uns wieder in Sicherheit gebracht hat.

But singing sailors afraids nothing
They brave just the storm
All this men hopa and sing
And the storms flee of this song