Das Tor nach Süden

Unser Problem begann mit einem grossen Boot. Der deutsche Motorbootbesitzer Peter war mit seinem Sohn Luis auf einem riesigen Pott unterwegs und schloss sich unserem Konvoi aus Segelbooten an. Wir hatten schon am Vortag beschlossen alle zur gleichen Zeit durch die Schleuse zu gehen und waren nun eine Flotte bestehend aus dem Amerikaner Robert, dem älteren Schotten Daniel und uns. Pünktlich um ein Uhr legten wir in Formation bei der St. Peters Marina ab, durchquerten die Brücke und begannen die Schleuse zu füllen, Sea Chantey zu hinterst. Die beiden Segelboote hatten rechts in der Schleuse festgemacht. Problemlos, denn beide Skipper waren erfahrene Segler. Wir hätten alle in der Schleuse Platz gefunden, wenn auch Peter seinen Kahn angemessen parkiert hätte. Da aber seine «Yes» eine enorme Windangriffsfläche bot, er dies nicht eingeschätzt hatte und zu allem Überfluss die Querstrahlruder ausfielen, blieb seinem Sohn nichts anderes als die Yes festzumachen wie sie war. Sonst wäre sie rückwärts aus der Schleuse getrieben. So hatten wir hinter ihm aber keinen Platz mehr. Weil sein Manöver einen Moment dauerte, machten wir vor der Schleuse hinter ihm fest. Um noch in die Schleuse zu kommen, mussten wir die Seite wechseln, weshalb wir den Wind von der Seite bekamen. Ehe wir uns versahen, drehte Sea Chantey sich, wandte den Bug von der Schleuse ab und der arme Frischer auf der Schleusenmauer musste den Kopf einziehen um nicht von unserem Bugspriet getroffen zu werden. Ich und Richard konnten gerade noch die Fender zwischen Rumpf und Mauer stecken. Reto korrigierte um die Nase in die Schleuse zu stecken, doch Sea Chantey warf plötzlich den Bug herum und drehte das Heck an die Mauer. Auf unserem armen Dinghy und unseren Armen aufgestützt drehte sie sich um 180°. Reto konnte einem Passanten die Heckleine reichen, während Richard und ich die Fender auf die andere Seite hängten. Der Tanz endete damit, dass Sea Chantey mit dem Heck zur Schleuse, an der Heckleine hing und vorn nur knapp nicht die schwimmenden Balken im Kanal berührte. Wir atmeten auf: Wir waren alle heile, Sea Chantey und das kleine Dinghy Alianza hatten keinen Schaden genommen und alle waren der Meinung Reto hatte das Steuer gebändigt wie ein alter Meister. Nun wurde die Flotte geschleust und kaum waren sie aus der Schleuse gefahren, verschätzte sich Peter wieder. Er wollte die Kanalseite wechseln und wurde wieder vom Wind gedreht, weshalb Reto und Richard eilten, um Luis beim Festmachen des Potts zu helfen. Der Schleusenmeister erstaunte sich darüber, sie hätten Peter eine Hauen sollen, statt ihm zu helfen – wir waren zwar wütend, aber wir sind und bleiben nette Leute. So nett, dass wir der ganzen (!) Flotte samt Peter und Luis Kaffee, Rum und Whiskey servierten, kaum hatten wir die Schleuse durchquert. Die Schleusenmeister öffneten die Brücke noch einmal, damit wir es einfacher hatten – Danke! Den Test des Nachmittages versoffen wir. Da Richard und Reto noch spazieren gingen, bekam Jolina Anson ihr verlorenes Mobiltelefon zurück. Das Mädchen hatte Glück, dass wir ebenso deutschsprachig sind wie sie. Ein Kanadier hätte ihre Nachrichten nicht entziffern können und sie nicht gefunden.

Durch die Brücke (Foto von Richard)

Robert ass mit uns zu Abend, bevor wir noch einmal zur Jam Session gingen. Zwei Pint Cider brachten mich dazu Richard den Song «Barettes Privateers» zu verschaffen, ich musste aber selber mitsingen. Reto machte derweil schon wieder der Serviertochter den Hof. Michelle plauderte mit ihm über meine Zeichnungen, die ich mit Kugelschreiber gekritzelt hatte. Die Zeichnung von Sea Chantey schraffierten wir kurzum mit Kontaktdaten aus und schenkten sie ihr, weshalb wir drei Seeleute (sehr zur Freude der Jungs) eine Umarmung der hübschen Schankmaid bekamen. Da Michelle einst einen deutschen Freund hatte und ein wenig Deutsch spricht, fliegt vielleicht bald auch eines meiner Bücher über den Teich…

Überfahrt der Chedabucto Bay von St. Peters nach Cape Canso (Foto von Richard)

Wir beschafften am Samstag, 20. 10. 2019 die letzten Sachen und legten ab. Wir hatten starken Westwind, womit wir nur unter Fock- und Besansegel über die hohe atlantische Dünung glitten. Weil ich einige Zeit unter Deck kochte, wurde ich in der Chedabucto Bay leicht seekrank, was mich quälte bis wir Cape Canso auf dem neuschottischen Festland erreichten. Kaum hatten wir die Heulboje vor der Ortschaft Canso erreicht, ging es mir wieder besser, denn wir holten die Segel ein. Wenn ich gebraucht werde verfliegt die Seekrankheit. Kaum waren die Segel geborgen, stand ich als Lotse auf dem Bugspriet. In die Bucht zwischen Grassy Island und Georg Island gegenüber der Stadt mussten wir seichtes Fahrwasser passieren, weshalb ich Ausschau nach Untiefen halten musste. Bis auf einen Seehund war aber nichts Auffälliges zu entdecken. Wir warfen Anker im Norden der Bucht, wo nur das Heulen der Boje an Menschen erinnerte, obwohl die Stadt nur eine halbe Meile westlich war.

Wettlauf zum Konzert

Richards erster Tag an Bord war nass! Wir machten in Whycocomaq einige Besorgungen – Richard brauchte eine Kaffeetasse – und brachen bei Nebel und Regen, aber kaum Wind auf! Hätten wir die Zeit gehabt, wären wir vermutlich noch geblieben, aber wieder waren wir in Zeitnot. Ich hatte Konzerttickets für das Celtic Colours Konzert in St. Peters gekauft, das einzige für das ich noch Tickets bekam. So stiegen wir nach einigen Stunden langsamen Segelns wieder auf Motor um, brauchten aber dennoch den ganzen Tag um Maskell Harbour zu erreichen. Wieder mussten wir früh los, doch hatten wir am Mittwoch doch zumindest allerschönstes Wetter. Nur wieder beinahe keinen Wind, sehr zu unserem Verdruss. Aber man macht bekanntlich das beste draus: Ich konnte lesen, abwaschen und schreiben, alles barfuss. Richard konnte lesen und Tee trinken. Und Reto… durfte steuern, was er eben am liebsten tut. Bei Sonnenschein legten wir in St. Peters an, das sich schon wie ein zu Hause anfühlt. Wir kennen bereits zwei Hand voll Leute, der Yacht Club ist eine Art grosse, bunte Familie. Schnell duschen, schnell zu Subway und schon standen wir vor dem Konzertsaal. Die Celtic Colours sind ein Festival zu Ehren der traditionellen Musik, welches auf ganz Cape Breton Island stattfindet. Während der Woche, in der sich die Blätter der Laubbäume verfärben, werden jeden Abend in unterschiedlichen Ortschaften Konzerte, kleine Events und Workshops gehalten. Künstler und Publikum reisen aus der ganzen Welt an. So hörten wir zu Konzertbeginn eine Sängerin aus Grenada, die traditionelle Musik aus der Karibik und den USA spielte. Dann gaben die lokalen Geigenspieler richtig Gas und der «fiddling Fisherman» schloss mit unglaublich schnellem Geige- und Gitarrespiel ein atemberaubendes Konzert. Natürlich fehlten wir auch an der After Party nicht, die eine Open Jam Session in einer Bar am Stadtrand war. Die Blaunasen, die hiesigen Kanadier, sind wahre Meister der Musik und eine Jam Session, an der unbekannten Leute spielen, steht einem Konzert in nichts nach.

Fotografiert aus dem Tür-Loch, zwei nasse Jungs

Entsprechend unseres Bier- und Cocktailkonsums bis morgens um eins, schliefen wir am stürmischen Freitag lange. Da der Wetterbericht Sturm mit Böen um 90 km/h angesagt hatte, wollten wir den Tag hier verbringen und dann im Konvoi mit zwei anderen Schiffen die Schleuse passieren. Also wuschen wir Wäsche. Unsere kleine Yacht Club Familie hatte am Vorabend die Künstler des Konzerts mit Truthahn verpflegt, dessen Rest nun die Leute aus dem Club samt uns vertilgten. So sitze ich mitten am Nachmittag mit Cola Rum vor meinem Blog, während die Jungs plaudern.

Die Goldjungen von Mah Jong

Mit der Crew unseres Nachbarschiffes, die Yawl Mah Jong führten wir bald eine freundschaftliche Beziehung. Unsere Arbeiten bspw. Das Beschlagen der Gaffel oder auch nur das Montieren des Klopapierrollenhalters blieben auf der Strecke, denn wann immer wir von einer Tour zurückkamen, bummelte ein Nachbar herüber um zu plaudern: Wir hatten nicht ein uninteressantes Gespräch! Kein Smalltalk, sondern Anekdoten und Tipps von erfahrenen Fahrtenseglern und Geschichten von Menschen.

Mah Jong, kurz bevor die Crew das Schlauchboot auflädt

Mah Jong hat viele Parallelen zu Sea Chantey. Beide wurden in Hongkong gebaut und sind Teak-Vollholz, was besonders spannend ist, weil sie beinahe gleichzeitig gebaut wurden: Mah Jong 1957 und Sea Chantey 1960. Beide sind in guter Kondition, wobei Mah Jong vor einigen Jahren Restauriert wurde und frisch ausgestattet. Zusammen sahen sie am Steg äusserst lustig aus, denn obwohl sehr ähnlich, ist Mah Jong doppelt so hoch wie unser altes Mädchen. Der blond gelockte Bursche, denn er ist erst Mitte Zwanzig, entpuppte sich als der Kapitän des Bootes. Alex hatte in Dänemark für Mah Jong’s Besitzer gearbeitet, der ihn kurzerhand zum Skipper, des frisch Restaurierten Boots gemacht hatte. Nun bringt er Mah Jong in seinen Heimathafen, Vineyard Haven in Massachusetts. Seine Crew sind Freunde von ihm und seinen Eltern, ausserdem sein Vater. David Goldhill, hatte als junger Mann seinen Job hingeworfen um in der Karibik zu segeln. So wuchs Alex mit seinen Geschwistern in Carriacou in den Grenadinen auf, bevor er in Dänemark Schreiner lernte und zu Mah Jong kam. Gegen einige Tafeln Schokolade tauschte ich mit dem jungen Kapitän ein romanartiges Sachbuch über Piraten. Er erzählte, er sei an Piraten sehr interessiert seit er mit Barry Clifford in Provincetown auf Schatzsuche gewesen war. Clifford hatte das Wrack eines Sklavenschiffs entdeckt, dass er tauchend ausräumte und mit den Sammelsurien ein Museum füllte. Sowohl Provincetown als auch Carriacou stehen jetzt auf der Destinationsliste.

Wir kamen zwar mit unseren Arbeiten nicht voran, durften aber einem Abenessen von Paul beiwohnen, der «zu viel gekocht» hatte. Er hatte zwar während eines Gesprächs mit uns sein Elchfleisch geliefert bekommen, kochte für seine Crew aber einen köstlichen Eintopf mit Schweinefleisch. Der «Moose» beherrschte dennoch den Humor bei Tisch, der sonst ruhige Kapitän gab sogar einen Akzentwitz zum Besten:

Once a scott came up here to Canada and on Cape Breton Island he saw his first moose. For he had never seen one before, he asked his blue nose friend: „Wath’s that big thing over there?” „That’s a Moose”, was the answer and the scott was shocked: „What? That’s a mouse? (In Akzent gesprochen wie „Moose”) Then I don’t want to see the rats!!”

St. Peters, Schleusenstadt und Piratennest

Am Samstag, 21 Sept. hatten wir alles zusammen, also machte Jens die Rechnung. Nach dem Mittagessen machten wir die Leinen los. Unter Motor, weil wir den Wind genau aus der Gegenrichtung hatten, verliessen wir den MacLeod Creek und brachten etwas Abstand zwischen uns und die Landzunge Widow Point. Dort setzten wir zum ersten Mal seit einem Jahr die roten Segel. Obwohl wir wunderbar sonniges Wetter hatten, war der Wind war stürmisch und böig. Deshalb setzten wir nur den Klüver und das Besan, das zweit vorderste und das hinterste Segel, was genug war um unsere sechs Knoten zu machen. Wir schienen das einzige Boot zu sein, dass unterwegs war, was wir auf die unangenehmen Wellen schoben, die genau so lang waren wie Sea Chantey und von hinten anrollten. Wir segelten zum ersten Mal seit Monaten, weshalb mein Freund der Situation mit viel Respekt entgegentrat, während ich mit einer übermütigen Euphorie am Steuer sass und bei jeder Welle hätte «Yippie!!!» schreien können. Schliesslich mussten wir zwischen den engen Inseln und Untiefen hindurch in den St. Peters Channel. Die Wellen liessen nach, doch die Manöver zu segeln erforderten dennoch Fingerspitzengefühl. Wenige Kilometer vor St. Peters kamen wir in Gegenwind und legten den Rest der Strecke unter Motor zurück. In der Marina wurden wir von vielen Helfern empfangen, die unser hübsches Boot sehr prominent am Steg zu vertäuen halfen. An diesem Abend bekamen wir die erste Dusche seit einer Woche.

In St. Peters sind zwei Dinge allgegenwärtig: Die Schleuse mit der dazugehörigen Drehbrücke, die den Bras d’or mit dem Atlantik verbindet, und die Pirat Days, ein jährliches Fest mit Aktivitäten und Parade, das wir um eine Woche verpasst hatten. Die Schleuse war unser Ziel, denn wir wollten uns in den Maritimes umsehen, bevor wir zu den Celtic Colors nach Cape Breton Island zurückkehren wollten um anschliessend den Weg in die Karibik anzutreten. Da der Bras d’or ein Meerwassersee ist und an zwei Stellen zum Atlantik offen, hat er Gezeiten, doch sind diese versetzt zu denen des Atlantiks. Die Schleuse muss demnach in beide Richtungen funktionieren, da einmal der See höher ist und einmal das Meer. Die Drehbrücke führt über den Kanal und muss betätigt werden, wenn ein Segelboot den Kanal passiert. Zwei Personen sind also an der Schleuse und Brücke beschäftigt, weshalb in der Nebensaison (bspw. September) nicht jeden Tag geschleust wird; da die Kombination aber zu Parks Kanada gehört, ist die Benutzung gratis.

Nach dem Sonntagseinkauf (70 L Trinkwasser und Lebensmittel) gingen wir bei dem Ehepaar zu besuch, dass vor einem Jahr Reto und Pascal zum Kaffee einlud. Er besitzt ein Jacht Charter Business und sie ist Schmuck-Künstlerin. Im letzten Jahr war er gerade dabei ein Boot zu bauen mit dem beide in die Karibik wollten, es ist aber noch immer nicht bereit. Zu unserm Glück, denn deshalb waren sie zu Hause. Er gab uns einen Einblick in die Pirat Days, erzählte uns von der wunderbaren Parade und dem Bootsbau-Contest: Aus Karton und Klebeband musste innerhalb einer gewissen Zeit ein Boot gebaut werden, mit dem die Mannschaft ein Wettrennen, beziehungsweise Wettpaddeln um eine Boje im Hafen gewinnen mussten. Kartonboote!!! Mindestens die Hälfte der Mannschaften saufen ab, was äusserst lustig zu erleben und anzusehen sein muss. Es ist für die hiesige Bevölkerung ein wahres Highlight; wir hatten schon am ersten Tag eine Piratenflagge von einem Bootsbesitzer im Hafen geschenkt bekommen, die jetzt munter an unserer Flaggenleine weht. Wenn wir weiterfahren, werden wir sie aber streichen, denn es ist bis heute verboten unter schwarzer Flagge zu segeln.

Derweil hatten wir Stegnachbaren bekommen: Eine hübsche, klassische Yawl hatte neben uns festgemacht als wir vom Spaziergang zur Schleuse zurückkehrten. Sofort waren wir wieder in ein Gespräch über unsere Boote, Thorshämmer und Dieselheizungen verstrickt. Der Thorshammer, den ich diesen Sommer aus Wachs modellierte, in die Giesserei schickte und erst seit einigen Wochen trage, fiel dem jungen Mann mit den goldenen Locken sofort auf, als wir besprachen, dass wir Sea Chantey noch ein wenig nach versetzen um mehr Abstand zwischen den Booten zu haben. Schon wussten wir, dass wir es mit Dänen zu tun hatten und durften eine Dieselheizung begutachten, wie Richard sie uns hoffentlich liefern wird. Ich begann an diesem Abend noch die Gaffelgabel neu zu beschlagen, vollendete meine Arbeit aber nicht.