Flucht durch den Golfstrom

Nachdem wir einen ganzen Tag von den Bugwellen von Jachten an unserem Ankerplatz geschüttelt worden waren und in sieben Marinas angerufen hatten, in der enttäuschten Hoffnung eine Dusche zu bekommen, hatten wir DIE NASE VOLL VON PALM BEACH! Zu voll, zu reich, zu ungehobelt und rücksichtslos. Dabei war mein Reto sonst schon genervt – die Überquerung des Golfstroms sorgte ihn. «Don’t mess with the Gulf Stream!» hatten uns diverse Segler gewarnt. Der Golfstrom, welcher den Atlantik, die Britischen Inseln und Norwegen aufwärmt, fliesst von Süden nach Norden an der Küste Floridas hoch. Er bis zu vier Knoten Strömung haben, was ein Boot sehr weit abdriften lassen kann. Des weiteren kann man ihn bei Nordwind nicht übersegeln, weil die Wellen unbeherrschbar hoch, spitz und kurz werden. Für uns war Ostwind vorhergesagt, Gegenwind. Ausserdem war bis zu 3 Knoten Strom für unseren Stichtag vorhergesagt. Reto war unschlüssig, wie dieses anspruchsvolle Stück Ozean anzupacken war, dabei waren beide Pläne, die er geschmiedet hatte, umsetzbar und gut. Nach einem halben Tag unschlüssiger Aufregung, gingen diese Sorgen auch mir an die Substanz und ich griff zu drastischen Massnahmen: «Du willst dir die Verantwortung für diesen Trip nicht aufladen, weil du Angst hast, dass es nicht glatt läuft?» Ich formte mit der Hand eine Pistole und setzte sie meinem Liebling mitten auf die Brust. «Dann meutere ich jetzt! Ich bin jetzt Kapitän, wir machen es, wie ich sage und ich bin unwissend und kaltblütig genug, um für alles die Verantwortung zu übernehmen!» Tatsächlich erleichtert es meinen Reto die Verantwortung abtreten zu können, auch wenn es nur gespielt ist. Aber ich machte ihm jetzt den verantwortungsvollen Kapitän und erklärte ihm, wie ich über diesen Golf fahren würde, oder er es so mochte oder nicht. Ich studierte den Wetter- und Windbericht und bestimmte, dass wir am folgenden Morgen um 07:00 Uhr die Küste verlassen würden. Dann gab es Abendessen.

Überfahrt bei gleisendem Sonnenschein über blaustes Wasser

Wir mussten um 05:00 Uhr aufstehen und den Anker einholen, um gegen 07:00 Uhr aus dem Inlet fahren zu können. Wir hätten dann Ebbentiefststand haben sollen und damit keine Strömung in die Lagune, leider stimmte die Zeitangabe nicht und wir ärgerten uns mit ein wenig Gegenstrom herum. Viel ärgerlicher waren aber die Sportfischer mit ihren enormen Jachten, die uns schüttelten als sie zum Fischen rausfuhren. Schon bei Sonnenaufgang war mir schlecht. Nach meinem Plan hielten wir Kurs Südost, um den Abdrift auszukorrigieren, und würden gegen Mittag die Segel setzen, wenn genug Wind aufgekommen sein würde. Nur war der Wetterbericht falsch. Der Wind kam nicht und auch die Strömung des Golfstroms war nur halb so stark wie vorhergesagt. Schliesslich änderte ich meinen Plan: Wir korrigierten den Strom weniger aus und fuhren mit dem Motor gerade gegen den schwachen Wind an, wodurch der Wind wenig Angriffsfläche bekam und der Strom uns beschleunigte. Indem wir anstatt Freeport im Süden von Grand Bahama Island nun West End im Nordwesten ansteuerten, wurden wir direkt an unser Ziel gespült. In rekordverdächtigen zehn Stunden kam Land in Sicht und ich nahm Kontakt mit der Marina und dem Zollbüro auf. «Don’t mess with the Gulf Stream!», lachte ich herzlich, als ich wieder ins Cockpit kletterte, «Das war die einfachste und gemütlichste Überfahrt, die wir je hatten!» Wir dachten an acht Knoten Fahrt mit dem Focksegel zurück, an die wellige Einfahrt nach Fernandina Beach und an die eisige Überquerung des Gulf of Maine zurück und stempelten die anderen «Segler» lachend als Weicheier ab! Während der Fahrt hatten wir das wunderbare blaue, blaue Wasser bewundert. Wo es tief war, war es königsblau, wurde bei zirka 15 Metern Schlumpf-blau und himmelblau ab sieben Metern. Während der Einfahrt in den Hafen konnten wir jeden Stein am Grund sehen, was gleichzeitig wunderschön und unheimlich war. Steine und Riffe so nah, als könnte man sie berühren und dennoch befanden wir uns zehn Meter darüber! Wir banden an einem grünen Holzpier fest und bestaunten noch eine Weile das Wasser, ehe Reto das Zollbüro aufsuchte. Offiziell ist und bleibt er eben Kapitän der Sea Chantey, weshalb auch hier nur er an Land durfte, solange wir die Quarantäneflagge gesetzt hatten. Kein Zöllner wollte uns inspizieren, so genossen wir eine kalte Dusche und assen im Restaurant zu Abend.

West End

Proviant für die Bahamas

Nachdem wir unsere Filter auf Merritt Island abgeholt hatten und das Auto retourniert hatten, begaben wir uns nach Süden. In drei Tagen arbeiteten wir uns nach Vero Beach vor. Hier buchten wir eine Mooring in der vollkommen überfüllten Marina, denn wir teilten uns die Mooring mit einem weiteren Boot. Reto fand daran sehr gefallen, denn so hatte er jemanden dem er die Ohren «zuschnorren» konnte. Gelegentlich geniesse ich es nämlich für mich zu sein. An diesem Abend genossen wir auch ein besonderes Spektakel. Eine Versorgungsrakete für die ISS Raumstation konnte zwei Wochen zuvor nicht starten, weshalb sie um Mitternacht in den Himmel geschickt wurde. Da wir aber schon einige Distanz zwischen uns und dem Space Center gebracht hatten, sah die Rakete aus wie ein Feuerwerkskörper von der langweiligen Sorte: Ein leuchtender Streifen der sich in einem Bogen nach Osten bewegte und sich dann in drei leuchtende Punkte teilte. Ein andermal sehen wir uns den Start von nahem an, dachte ich.

Mit dem Bus machten wir einen Ausflug zum Wochenmarkt, bevor wir uns an den Grosseinkauf machten. Reto kaufte bei Westmarine die benötigten Karten, einen Anker fürs Dinghy und dieverses Bootszubehör, während ich bei Publix schon den ersten Einkaufswagen füllte. Dosen stapelten sich, Süssgetränke und Trinkwassermussten auf einen zusätzlichen Wagen verteilt werden und Teigwaren kauften wir Kiloweise. Ich wollte ursprünglich 20 kg Mehl einkaufen, aber ich musste mich mit 17.5 kg zufriedengeben, weil das Regal leer wurde. Frische Lebensmittel kauften wir nur sehr beschränkt: Zwiebeln, Kartoffeln, Kürbis, Bananen, Äpfel und Zitronen. (Bananen und Äpfel mussten wir schon wenige Tage später aufgebraucht haben, weil die grünen Bananen zu schnell reif wurden und die Äpfel leider Druckstellen bekamen.) Über die Unmengen an Nutella und Nescafé, die wir verbrauchen, schmunzelte ich sehr, weil sie sehr viel Platz in den Einkaufswagen ausfüllten. Drei Duzend Eier und ein bisschen Käse komplettierten einen Einkauf über 500 Dollar. Der Einfachheit halber liessen wir uns von Uber zurückfahren. Unser Fahrer Maurice vermochte unsere Einkäufe fast nicht in seinem mittelgrossen Auto zu verstauen. Natürlich mussten wir ihm erklären was für eine Armee wir hier verproviantierten und wir staunten nicht schlecht, als er uns seinen Schweizer Pass zeigte. Seine Mutter war Schweizerin, er aber in den USA aufgewachsen. Dennoch hatte er mit seiner Familie einige Jahre in der Schweiz gelebt. Wir staunten noch mehr als er sagte, dass seine zwei Jungs im Sommer in die Schweiz reisen um den Miltärdienst zu absolvieren. Er meinte, es sei ihr Abnabelungsprozess. Maurice half uns sein Auto zu ent- und Alianza zu beladen. Wir plauderten noch eine Weile, während Reto die Einkäufe auf Sea Chantey brachte. Wir hätten ihm gerne unser Boot gezeigt, aber die Zeit rief und tauschten Instagram Kontaktdaten aus. Nun gab ich Reto bei unseren Nachbaren ab, denn Proviant verstauen ist als Smutje meine Aufgabe.

Doppelbrücke

Verproviantiert machten wir uns auf den Weg nach West Palm Beach, von wo aus wir den Golfstrom überqueren wollten. Wir durchquerten unzählige Klappbrücken in dem vermutlich bewohntesten Teil des Intracoastal Waterways. Die Villen türmten sich links und rechts von Kanal schier übereinander und eine Unmenge von Booten war anzutreffen. Niemandem konnte es schnell genug gehen, kleine Boote flitzen im Kanal hin und her, während die Bugwellen von Mega-Sportjachten unsere Sea Chantey schüttelten. Da die Amerikaner ihre Boote gelegentlich bis öfters auch nicht zu beherrschen wissen, erlebten wir zwei Beinahe-Unfälle: Ein Boot fährt zu nahe an die Klappbrücke heran,weil er der Erste sein will, der hindurch kann, diese öffnet aber nicht schnell genug und die Strömung zieht das Boot unter die Brücke, wobei der Mast mit der Brücke kollidieren würde. Dann musste das ungeduldige Boot rückwärts gegen die Strömung kämpfen, was zu sehr akrobatischen Manövern führte. Wir versuchten uns nicht nerven zu lassen und hielten Abstand. Und obwohl wir Klappbrücken lustig finden, waren wir froh, als wir in die Lagune von West Palm Beach einfuhren, wo es keine Klappbrücken mehr gab. Wir verbrachten einen Tag auf einer kleinen Insel, die Naturschutzgebiet ist und deshalb fast einsam war. Mein Highlight war eine Meeresschildkröte, die sich mir zeigte sich aber vor Reto versteckte.