Reto, der Superheld

Da nun nach und nach die Insel wieder geöffnet wird, kann ich nicht mehr von «Quarantäne-Abenteuern» schreiben, auch wenn wir von normal noch weit entfernt sind. Ab 2. Juni, also nach Pfingstmontag, sind fast alle Geschäfte wieder geöffnet, einzige Ausnahme ist die Unterhaltungsindustrie.

Wer uns kennt weiss, dass Reto normalerweise vor mir aufsteht. Hier im Hafen nutzt er diese Zeit, um einen Ausflug zu den Sanitäranlagen zu machen, womit unser Bord-WC geschont wird. Am Freitag vor dem Pfingstwochenende erregte ein furchtbar tiefliegendes Sportfischerboot seine Aufmerksamkeit. Sein sechster Sinn für leckende Boote brachte ihn ins Hafenbüro, in dem aber noch niemand zugegen war. Ein Security-Mitarbeiter benachrichtigte für ihn den Hafenmeister, während Reto kurzentschlossen zu Sea Chantey zurückkehrte, um die Handpumpe und den Eimer zu holen. Ich lag derweil noch selig träumend in der Koje. «Stefy, da sauft ein Boot ab. Ich gehe es auspumpen», gab er mir Bescheid, aber im Halbschlaf machte ich nur «Mh…hm…» und träumte weiter. Ich erstach in einem unruhigen Traum Ratten in einem Einkaufszentrum mit einem Küchenmesser, als mich der Präsident meines Schützenvereins zu rufen begann. Ich brauchte gute zwei Minuten bis ich feststellte, dass vom Pier aus jemand nach mir rief. Der Gehilfe des Hafenmeisters war von Reto geschickt worden, um Tuck Tape zu holen. Er musste zweimal sagen, was er wollte bis ich begriff, aber gleich darauf grub ich die silberne Tuck Tape Rolle hervor und begleitete den Gehilfen zu Retos Frühsport-Projekt. Das Boot war zirka 12 Meter lang, mindestens vier Meter breit und Reto lag zur Hälfte im Heckstauraum, um mit dem Finger eines der Lecks in einem Schlauch zuzuhalten. Teamwork: Ich rollte ein Stück Tape ab, Reto zog den Finger zurück und ich montierte das Klebeband über dem sprudelnden Loch. Dann bediente ich die Handpumpe, Reto fuhr damit fort die überschwemmte Kabine mit unserem Eimer auszuschöpfen und der Hafengehilfe, der weder Eimer noch Pumpe hatte, stand daneben. Dabei wurde ich endlich wach – Reto verfehlte mit einem Eimer voll Wasser das Hafenbecken und es traf mich eine grosszügige Portion. Bald tauchte der Hafenwart mit einer elektrischen Bilgenpumpe auf, die er an einer Autobatterie anschloss, womit endlich sichergestellt war, dass der Kahn nicht unter unseren Är***en wegsank. Kaum war diese installiert, kam endlich der Angestellte des Bootsbesitzers mit einer dieselbetriebenen Pumpe zur Bewässerung von Gartenanlagen. Damit konnte nun gepumpt werden, weshalb ich Zeit fand selbst das WC aufzusuchen und Wasserfläschchen zu verteilen, die wir nötig hatten. Bald konnten wir den Schauplatz sogar verlassen und das Frühstück zu Mittag essen. Aber wir waren erst halb fertig als wir wieder zum Boot gerufen wurden, weil der Besitzer sich bedanken wollte. «Ich weiss nicht, ob du ein Superheld bist oder sowas, aber ich bin sehr dankbar, dass du das Boot vor dem Absaufen bewahrt hast», sagte der Besitzer und übergab mir einen enormen Beutel voll gefrorener Conch (gesprochen Konk, deutsch Fechterflügelschnecke), von dem Reto wegen seiner Allergie nichts essen darf. Das Boot war derweil fast komplett ausgepumpt. Am Nachmittag brachten wir unsere Conch zum Restaurant des Hafens, dessen Chefkoch mir daraus ein Reisgericht machte und Reto einen Lamm-Hamburger machte.

Das liegt aber tief
kein Wunder bei so viel Wasser in der Kabine

«Erst das kleine Fischerboot, dann diese Jacht. Die Boote, die du auspumpst, werden auch jedes Mal grösser», sagte ich einmal zu Reto, «Das nächste Mal retten wir einen Öltanker?» Reto lachte nur darüber.

Die Schnecke

Richard fand uns von alleine. Ursprünglich hatten wir ihn in Freeport, einen Tagestrip entfern, abholen wollen. Aber ihn zu uns kommen zu lassen, war einfacher. Glücklicher weise hatten wir schon tags zuvor aufgeräumt und Platz geschaffen, weshalb Richard sofort einziehen konnte. Wir hatten das Resort, welches sich rund um die Marina erstreckt, schon am Vortag erkundet und wussten, was es zu sehen gab. Wie alle Badetouristen verbrachten wir den Nachmittag im klaren, blauen Wasser am Strand, schaukelten in den vom Resort aufgehängten Hängematten und spazierten den Strand entlang, bis wir das Resort längst hinter uns hatten. Uns schien, dass die Hotelanlage ausser den Gästen der Marina kaum zwanzig Personen beherbergte. Die meisten Anlagen waren leer und am Strand befanden sich kaum Leute. Die Marina hingegen war gut belegt mit sogenannten Sportfischern, Privatpersonen, welche mit monströsen Jachten aufs Meer Fahren um Angeln zu gehen. Zumal sie von Florida aus schon den halben Weg nach Grand Bahama zurücklegen, um die Angeln auszuwerfen, übernachten sie oft auf der Insel, um am nächsten Tag fischend zurückzufahren. Das Restaurant hatte sich dem angepasst: Man kann seinen Fisch selbst mitbringen und zubereiten lassen.

Der Berufsfischer auf dem Pier interessierte uns aber weit mehr, denn dieser hockte an einem kleinen Tisch und schnitt etwas Undefinierbares zurecht. Conch, gesprochen Konk, ist eine grosse Seeschnecke mit noch viel grösserem Häuschen und eine Delikatesse auf den Bahamas, darf jedoch nicht exportiert werden. Zusammen mit Zitrone, Orange, Zwiebel, Tomate und Paprika wird daraus der berühmte Conch Salat. Die Schnecke ist auch als Suppe oder frittiert erhältlich. Furchtlos, wie wir sind, kauften Richard und ich dem Fischer eine Schale voll frisch zubereitetem Salat ab. Reto musste sicherheitshalber verzichten, da er gegen Schalentiere allergisch ist und wir bei ihm keine Risiken eingehen. Während der ältere Schwarze den Salat schnippelte, konnte ich seinem Sohn oder Neffen zusehen, wie die Schnecke aus der Schale geholt wird. Dazu wird, leider, in die immense Muschel mit dem Hammer ein Loch geschlagen. Durch dieses wir mit dem Messer das Ende der Schnecke abgeschnitten, welches mit der Muschel verbunden ist. An dem sogenannten Fuss, eine Art Flosse mit der sich die Schnecke bewegt, wird das arme Weichtier aus der Muschel gezogen. Dann werden der Fuss, die Stielaugen und das Geschlecht abgeschnitten, bevor die Schnecke gehäutet wird. Der Vorgang dauert zirka 30 Sekunden. Auch erzählte er uns, wie er die Schnecken mit Schnorchel und Flossen auf dem Grund zusammensammelte. Zirka 300 Stück waren es heute. Weil wir so interessiert waren, zeigte uns der Fischer, wo im Körper die wertvollen Schneckenperlen zu finden wären und er gab uns ein Stück der Schnecke ganz frisch zu essen: Es sah aus wie ein durchsichtiges Spaghetti, das wir der Schnecke nach meinem Verständnis direkt aus dem Geschlecht zogen. Die Vorstellung ist ekelerregend, das «Spaghetti» schmeckte aber nur leicht fischig und salzig, ähnlich wie Kaviar. Der Salat war derweil fertig geworden und auch dessen Geschmack, erinnerte nicht an meine Vorstellung von Schnecke. Das Schneckenfleisch war ähnlich wie eine Auster, nur etwas fester und faseriger, und schmeckte auch so. Ich bin nun auch bereit eine Weinbergschnecke zu probieren, aber ich schätzte dennoch das Kotelett, welches ich im mit Sportfischern überfüllten Restaurant bekam.