New York, das niemals schläft

An einem kalten, grauen Tag, durchzogen mit Regenschauern, kamen wir in Manor Haven auf Long Island nahe Brooklyn an, wo wir Vorräte aufstockten und auf die richtige Tide warteten, um New York zu durchqueren. Diese würde am frühen Morgen Richtung Süden durch die Stadt strömen. «Das New York im Dezember schon Schnee hat, ist äusserst selten», verklickerte mir Reto seit Tagen. Ich zog jeweils nur die Augenbrauen hoch und meinte: «Das du dich da nur nicht täuscht!» Und da Frauen immer recht behalten, lag am frühen Morgen Schnee an Deck, als wir die gefrorenen Leinen lösten. Es war unter Null Grad und neblig, als wir die Marina verliessen und uns auf den East River zu bewegten. Als wir die erste Brücke passierten überlegte sich Käpt’n Reto zurückzufahren, weil der Trip durch die viel befahrenen Wasserwege New Yorks bei dickem Nebel gefährlich sein kann. Doch der Himmel klarte allmählich auf, weshalb wir von der starken Strömung getrieben in haarsträubendem Tempo (naja, 8 Knoten, davon 4 Knoten Strömung) durch den East River glitten. Kleine Frachtschiffe kamen uns im zehn Minuten Takt entgegen, während sich die Skyline der Stadt aus dem Dunst erhob. Im East River herrschen starke Ströme, die mitunter Strudel bilden. In der «Hell’s Gate» genannten Kurve war unsere Sea Chantey daher schwierig zu steuern und das vorüberziehende Polizeiboot betrachtete uns eine Weile argwöhnisch, aber Reto steuerte uns in Schlangenlinien hindurch. Schliesslich brach die Sonne durch den Nebel als wir in den Hudson River einbogen, weshalb wir die Wassertaxis und Schnellfähren schon aus Distanz sichten konnten. Wenn uns der Verkehr nicht voll in Anspruch nahm starrten wir entlang der Gebäude nach oben und staunten darüber wie gross diese Stadt war. «Schau mal! Das Empire State Building!» «Ob dieses alte Gebäude wohl einmal eine Fabrik war?» «Da geht eine Seilbahn über den Fluss!» Der Anblick der Stadt liess uns staunen. Als wir gegen Mittag das Hafenbecken erreichten, kam auch die Freiheitsstaute in Sicht. Aber bei allen Bemühungen liess sich kein gutes Foto von ihr machen, denn wir hielten uns auf der falschen Seite des Hafens. Riesige Containerschiffe zogen an uns vorbei und ein Schlepper mit Barke (ein riesiges Floss zum Transport von Arbeitsgeräten oder Waren) verfolgte uns eine Stunde, bevor wir unter der Staten Island Bridge vor ihm durch die Seite wechseln konnten. Bis dahin war Lady Liberty nur noch die Dame eines Schachspiels und die vielen Frachter nur noch Spielzeugschiffe, was uns erleichterte. Im Süden von Staten Island wollten wir im kleinen Great Kills Harbor tanken, jedoch waren alle Tankstellen geschlossen. Dafür fanden wir eine geöffnete Marina, wo man uns für die Nacht aufnahm und mit heissem Tee versorgte, denn es war den ganzen Tag kalt.

Reto und Lady Liberty

Ich wollte diese Stadt erleben, weshalb ich Reto unter den Arm nahm und in den Expressbus nach NYC stieg. Das Ziel war Rockefeller Center, wo der weltberühmte Christbaum steht. Eine Stunde fuhren wir mit dem Bus durch Staten Island, dann über die Brücke nach Brooklyn und durch den Tunnel nach Manhattan. Der Vollmond ging abends um fünf schon über der Stadt auf und die Freiheitsstatue leuchtete von Fern. Am Waverly Place stiegen wir aus und wechselten in den Subway, doch sobald wir an 7 Ave/49 Street auf die Strasse kamen, verirrten wir uns. Reto glaubte den Weg zu kennen, aber trotz Kompass und Maps gingen wir in die falsche Richtung. Wir machten Fotos mit Batman am Rock City, bevor meine Intuition uns schliesslich von hinten zum bunt leuchtenden Christbaum führte.

der Christbaum im Rockefeller Center

Zugegeben, er ist auf den Fotos viel schöner als in echt, aber das Erlebnis zählt. Ohne Reto wäre der Ausflug vielleicht schöner gewesen, der er mag keine grossen Städte und liess mich dies auch spüren. Auch das Abendessen konnte ihn nicht umstimmen, denn der Hot Dog und die Quich waren etwas gar klein für den Preis. So waren wir beide ganz froh, als wir die Marina wieder erreichten und erfreuten uns umso mehr an den weihnachtlich beleuchteten Jachten, die fast so schön waren, wie Rockefeller Center, und nur für uns geschmückt zu sein schienen.

Winterwunderland

Sandwich erreichten wir unter Motor, kurz bevor sich der windstille Tag in den nächsten Sturm verwandelte. Wir legten noch bei Tageslicht in der Marina an, doch als wir später das Einkaufszentrum verliessen, war es stockfinster und regnete in Strömen. Wir wurden triefend nass, bis wir uns endlich in unserem Boot verkriechen konnten. An dem Tag darauf schliefen wir lange, doch obwohl draussen der Sturm wütete, gingen wir am Nachmittag spazieren. Jeder Regentropfen brannte uns auf den Wangen als der Wind uns auf dem Weg zum Strand entgegenpeitschte. Doch der Anblick des wütenden Meeres war wunderbar. Ich lief in der Strandmitte und dennoch mitten in der Brandung. Die Möwen schienen in der Luft still zu stehen, wenn sie gegen den Wind flogen. Vollkommen durchnässt kehrten wir in einem Restaurant ein. Im Fernseher über der Bar verfolgten wir erstaunt die Gingerbreadhouse Competition, in welcher drei Teams je ein Lebkuchenhaus nach einem bestimmten Thema produzieren mussten. Die Resultate waren faszinierend: Einige mit LED-Beleuchtung, andere mechanisch beweglich und alle riesig und überdekoriert. Nach dem Abendessen verkrochen wir uns wieder in unser Boot, um zu trocknen.

Cape Cod Canal mit Puderzucker bestäubt

Am Dienstag, 3.12.19 war Cape Cod mit Schnee bestäubt, als wir zum Aufbruch klar machten. Eiszapfen hingen von den Schoten und Schnee lag an Deck. Weil im Kanal durch die Gezeiten starke Strömung entstehen, durchquerten wir ihn am Nachmittag mit dem Strom. Kurz vor der Ebbe lösten wir die gefrorenen Leinen und klappten die Fender ein, anstatt zu versuchen sie zu entfernen. So fuhren wir in den Kanal hinaus. Der Wind wehte bitter kalt, aber die schöne, weisse Welt, die sich rechts und links vom Kanal erstreckte, war wunderbar anzusehen. Fischerboote kamen uns entgegen und ab und zu bekamen wir einen Seehund zu Gesicht. Nach nur anderthalb Stunden kam die Eisenbahnbrücke und dahinter Maritime Academy in Sicht, welche am Südwestende des Kanals zu finden ist. Von dort war unser Zielhafen nicht mehr fern und durchgefroren durchquerten wir den Bojenkanal zu einer kleinen Ortschaft. Es dauerte eine Weile bis sich am Funk jemand von der Marina meldete, aber schliesslich überliess man uns das Fuel Dock. Auf dem Pier lagen fast zehn Zentimeter Schnee. Und wie glücklich uns die Nachricht machte, dass die Duschen noch in betrieb waren, ist kaum vorstellbar! Wir benutzten beide die Duschkabinen der Damenräume und leerten den Warmwassertank. Zu unserer überraschung fluteten wir damit den ganzen Raum, denn das Wasser stieg aus dem zentralen Abfluss herauf. «Nicht schon wieder!», stöhnte der Mann im Marinabüro, als wir ihm am nächsten Morgen davon erzählten. Sie hätten dieses Problem schon zwei Mal von der zuständigen Firma beseitigen lassen, erneut erfolglos. Während er sich mit dem Problem beschäftigte, brachen wir auf und motorten gegen den Wind nach Südwesten.